FG-Akteneinsicht Corona bedingt in Kanzleiräumen statt im Gericht

In Finanzgerichtsverfahren ist die Akteneinsicht essentiell, um einen fairen Prozess zu gewährleisten. Normalerweise müssen die Prozessvertreter dafür ins Gericht kommen, was zu Pandemiezeiten jedoch nicht umsetzbar ist. Ausnahmsweise kann das Gericht in dieser Situation die Aktenversendung in die Kanzlei erlauben.

Das Recht auf Akteneinsicht spielt im Finanzgerichtsverfahren eine große Rolle.

Ohne Akteneinsicht kein effektiver Rechtsschutz

Mit der Akteneinsicht wird u.a. der grundgesetzlich zugesicherte Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) erfüllt. Sie dient der Waffengleichheit zwischen den Parteien und damit einem gerecht ablaufenden Gerichtsprozess.

Grundsatz: Papierakten werden in Diensträumen des Gerichts eingesehen

In § 78 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO) steht geschrieben, dass die Beteiligten die Gerichtsakte und die dem Gericht vorgelegten Akten einsehen können. Werden die Akten in Papierform geführt, wird Akteneinsicht durch Einsichtnahme in die Akten in Diensträumen gewährt (§ 78 Abs. 3 FGO). Gemeint sind damit Räume innerhalb des Gerichtsgebäudes, die zu diesem Zweck bereitgestellt werden.

Diensträume stehen pandemiebedingt nicht zur Verfügung

Zur Eindämmung des Coronavirus‘ gibt es aber nun die Vorgabe, persönliche Kontakte zu vermeiden oder jedenfalls auf das absolut nötige Minimum zu reduzieren, weshalb die Gerichte vielerorts ihre Räumlichkeiten jedenfalls für Akteneinsichten schließen.

Ausnahmsweise Aktenübersendung in Kanzlei?

Vor dem FG Hamburg ging es nun um die Frage, ob der Akteneinsicht begehrende Anwalt auf die Zeit nach Ende der Pandemie verwiesen wird oder ihm die Akten ausnahmsweise in die Kanzlei geschickt werden, damit er sie sich dort ansehen kann.

Rechtsprechung des BFH eröffnet Möglichkeit für ausnahmsweise Versendung

Das grundsätzliche Problem ist schon mal, dass das Gesetz die Versendung von Papierakten explizit nicht vorsieht. Dem hat die Rechtsprechung aber auf die Sprünge geholfen und dies dennoch, wenn auch beschränkt auf Einzelfälle, zugelassen. Das Gericht soll hier nach eigenem Ermessen entscheiden dürfen (z.B. BFH, Beschluss v. 13.6.2020, VIII B 149/19).

In die Abwägung einzubeziehen sind Aspekte wie z.B.:

  • Wahrung des Steuergeheimnisses,
  • Gefahr der Einsichtnahme durch unbefugte Dritte,
  • Gefahr des Verlustes oder der Beschädigung der Akten,
  • das dienstliche Interesse an einer Verfügbarkeit der Akten im Hinblick auf eine bevorstehende Verhandlung.

Beispiele für Ausnahmefälle in der Rechtsprechung

So wurden schon einmal einem rollstuhlfahrenden Anwalt, einem mit Kreuzbandriss und einem Prozessvertreter in einem Verfahren, in dem das Aktenstudium wegen der extrem umfangreichen und unübersichtlichen Akten außergewöhnlich zeitintensiv war, die Akten in die Kanzlei übersandt.

Beachtung der Corona-Regeln ebenso wichtig wie Akteneinsicht für fairen Prozess

Für das Vorliegen eines Ausnahmefalls entschieden sich auch die Hamburger Richter in diesem Fall. Zu Corona-Zeiten dürften die Anwälte nicht auf das nicht absehbare Ende der Pandemie vertröstet werden, zumal die Prozesse ja trotzdem weiterlaufen. Das würde dazu führen, dass der Prozess nicht effektiv geführt und der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt würde.

Abwägung mit möglichen Gefahren fiel zugunsten der Übersendung aus

Anhaltspunkte für Gefahren, die mit der Versendung der Akten einhergingen, sahen die Richter in diesem konkreten Fall nicht. So hatten sie keine Sorge, dass die Akte oder Teile verloren gehen oder die Akteneinsicht in der Kanzlei durch Manipulation missbraucht werden könnte.  

(FG Hamburg, Beschluss v. 1.2.2021, 4 K 136/20)

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Hintergrund: Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit

Der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit ist Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit und des allgemeinen Gleichheitssatzes im Zivilprozess und sichert verfassungsrechtlich die Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor dem Richter, der - auch im Blick auf die grundrechtlich gesicherte Verfahrensgarantie aus Art. 103 Abs. 1 GG - den Prozessparteien im Rahmen der Verfahrensordnung gleichermaßen die Möglichkeit einzuräumen hat, alles für die gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen und alle zur Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderlichen prozessualen Verteidigungsmittel selbständig geltend zu machen.

Dem entspricht die Pflicht des Richters, diese Gleichstellung der Parteien durch eine objektive, faire Verhandlungsführung, durch unvoreingenommene Bereitschaft zur Verwertung und Bewertung des gegenseitigen Vorbringens, durch unparteiische Rechtsanwendung und durch korrekte Erfüllung seiner sonstigen prozessualen Obliegenheiten gegenüber den Prozessbeteiligten zu wahren (BVerfGE 52, 131, 156 f. m.w.N.).

Erforderlich sind danach die Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor dem Richter und gleichwertige Möglichkeiten zur Ausübung ihrer Rechte. Die prozessuale Waffengleichheit steht dabei im Zusammenhang mit dem Gehörsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 1 GG, der eine besondere Ausprägung der Waffengleichheit ist. Als prozessuales Urrecht (vgl. BVerfGE 70, 180, 188) gebietet dieser, in einem gerichtlichen Verfahren der Gegenseite grundsätzlich vor einer Entscheidung Gehör und damit die Gelegenheit zu gewähren, auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluss zu nehmen.

Aus: Deutsches Anwalt Office Premium

Schlagworte zum Thema:  Finanzgericht, Coronavirus