
Deutsche Staatsanwälte sind - im Gegensatz zu ihren litauischen und anderen Kollegen - nicht unabhängig genug, um wirksam einen Europäischen Haftbefehl (EuHB) auszustellen. Das hat der EuGH im direkten Vergleich entschieden: Weit über 5.000 von deutschen Staatsanwaltschaften ausgestellte europäische Haftbefehle dürften danach derzeit unwirksam sein.
Zu diesem für die deutsche Justiz wenig erquicklichen Ergebnis kam der EuGH in drei Verfahren, in denen das Gericht die Erstellung Europäischer Haftbefehle durch die StA Lübeck und die StA Zwickau für nicht rechtens hält, während ein von der Generalstaatsanwaltschaft von Litauen erstellter europäischer Haftbefehl als zulässig bewertet wird.
Klagen gegen drei europäische Haftbefehle in Irland
Vor Gerichten in Irland hatten sich ein rumänischer Staatsangehöriger sowie zwei litauische Staatsangehörige gegen die Vollstreckung Europäischer Haftbefehle gewehrt,
- die in zwei Fällen von deutschen Staatsanwaltschaften (Lübeck und Zwickau),
- in einem Fall vom Generalstaatsanwalt von Litauen
ausgestellt worden waren. Die Betroffenen rügten, dass die ausstellenden Staatsanwaltschaften keine Justizbehörden im Sinne des Europäischen Rahmenbeschlusses über den europäischen Haftbefehl sei (Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13.6.2002 in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI v. 26.2.2009).
Europäischer Haftbefehl als System des Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten
Der EuGH stellte in seinen Entscheidungen denn auch maßgeblich auf die von den Betroffenen angeführten Vorschriften ab. Die genannten Rahmenvorschriften hätten den Sinn,
- einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln,
- in dem die Auslieferung von Gefangenen zwischen Mitgliedstaaten abgeschafft
- und durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden ersetzt wird.
Das sollte die Komplexität bisheriger Auslieferungsverfahren und die damit verbundenen Verzögerungsrisiken beseitigen und auf diese Weise einen von gegenseitigem Vertrauen geprägten Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit zwischen europäischen Staaten zu setzen (EuGH, Urteil v. 22.12.2017, C-571/17).
Justizielle Kontrolle muss gewährleistet sein
Diese Grundsätze setzen nach Auffassung des Gerichts voraus, dass der Europäische Haftbefehl unbedingter und unabhängiger rechtlicher Kontrolle unterliege. Deshalb hätten die Staaten zwingend festgelegt, dass eine Justizbehörde die Entscheidung über die Übergabe der betreffenden Person treffen müsse.
- Gemäß Art. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 sei Justizbehörde die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staates für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständig ist.
- Zwar dürfen nach Auffassung des Gerichts die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem Grundsatz der Verfahrensautonomie in ihrem nationalen Recht die für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständige Justizbehörde bestimmen,
- jedoch obliege die Beurteilung der Bedeutung und Tragweite des Begriffs "Justizbehörde" nicht der Beurteilung des einzelnen Mitgliedstaats.
Die deutschen Staatsanwaltschaften aber überspringen nach Ansicht des EuGH die Hürden, die für eine Justizbehörde bestehen, nicht.
Justizbehörden müssen unabhängig von der Exekutive sein
Der Begriff der Justizbehörde ist nach Auffassung des Gerichts in der gesamten Union einheitlich auszulegen.
- Er umfasse nicht nur Richter und Gerichte eines Mitgliedstaates,
- sondern sei so zu verstehen, dass sämtliche Behörden erfasst würden, die in einem Mitgliedstaat an der Strafrechtspflege mitwirken
- und die nicht zur Exekutive gehören (EuGH, Urteil v. 10.11.2016, C-477/16).
Die ausstellende Justizbehörde müsse in der Lage sein, ihre Aufgabe in objektiver Weise wahrzunehmen, unter Berücksichtigung aller be- und entlastenden Gesichtspunkte für die betroffenen Beschuldigten
und ohne Gefahr zu laufen, dass ihre Entscheidungsbefugnisse Gegenstand externer Anordnungen oder Weisungen seitens der Exekutive sind.
Deutsche StA'en gewährleisten nicht die erforderliche Unabhängigkeit
Diese Unabhängigkeit von der Exekutive sei bei den deutschen Staatsanwaltschaften nicht gewährleistet. Dies folge aus §§ 146,147 GVG.
- Nach § 146 GVG hätten Beamte der StA den dienstlichen Anweisungen ihres Vorgesetzten nachzukommen.
- Gemäß § 147 GVG stehe das Recht der Aufsicht und Leitung hinsichtlich des Generalbundesanwaltes dem Bundesminister der Justiz, der Landesjustizverwaltung hinsichtlich aller Staatsanwaltschaften des betreffenden Landes zu und reiche damit über § 146 GVG bis zum einzelnen Staatsanwalt.
- Das Gesetz regele nicht einmal, unter welchen Voraussetzungen das Weisungsrecht ausgeübt werden dürfe.
Nach dem in Deutschland geltenden Legalitätsprinzip müsse die StA einer rechtswidrigen Weisung durch die Exekutive zwar grundsätzlich nicht folgen, nach der Gesetzesformulierung sei es aber nicht ausgeschlossen, dass der Justizminister eines Bundeslandes auf die Ermessensausübung der Staatsanwaltschaften bei der Entscheidung über die Ausstellung des europäischen Haftbefehls Einfluss ausübe.
Deutsche StA ist zu hierarchisch aufgebaut
Diese Bedenken an der Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften bei Erlass eines Haftbefehls können nach Auffassung des EuGH auch nicht dadurch ausgeräumt werden, dass der Betroffene gegen Entscheidungen der StA über die Ausstellung eines Haftbefehls Klage bei den zuständigen deutschen Gerichten erheben könne.
- Diese gerichtliche Kontrolle erfolge nämlich immer erst nachträglich und gewährleiste nicht die nach europäischem Recht vorgesehene Unabhängigkeit bereits bei Ausstellung des Europäischen Haftbefehls.
- Wegen der konkreten Gefahr des Einflusses durch die Exekutive können deutsche Staatsanwaltschaften damit nicht als ausstellende Justizbehörde im Sinne des Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI eingestuft werden, denn sie seien in die hierarchische Struktur des betreffenden Bundeslandes mit dem jeweiligen Justizminister an der Spitze eingebunden
Letzte Entscheidung liegt bei den nationalen Gerichten
Hinsichtlich der nicht gegenüber der Exekutive weisungsgebundenen Generalstaatsanwaltschaft Litauen hatte das Gericht demgegenüber keine Bedenken, diese als Justizbehörde im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI einzustufen. Die nationalen Gerichte in Irland müssen nun ihre Entscheidungen entsprechend den rechtlichen Vorgaben des EuGH treffen.
(EuGH, Urteile v. 27.5.2019, C-508/18 – StA Lübeck, C-82/19 PPU - StA Zwickau und C-509/18 – GeneralStA Litauen)
Richter fordern Reform des GVG
Mehr als 5.000 der zurzeit in Umlauf befindlichen Europäischen Haftbefehle, ausgestellt von deutschen Staatsanwaltschaften, dürften nach der Entscheidung des EuGH ungültig sein. Der Europäische Haftbefehl wird in Zukunft in Deutschland wohl von den Gerichten ausgestellt werden müssen. Die Zuständigkeit und das Verfahren bedürften insoweit allerdings noch einer gesonderten gesetzlichen Regelung. Das Fazit des Deutschen Richterbundes nach der Entscheidung des EuGH ist allerdings ein anderes, nämlich die Forderung nach einer Reform des GVG und der von Richtern seit längerem geforderten Abschaffung der Weisungsgebundenheit der deutschen Staatsanwaltschaften.
„Das Weisungsrecht der Justizminister an die Staatsanwaltschaften im Einzelfall muss aufgehoben werden“,
sagte der DRB-Vorsitzende Jens Gnisa.
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Hintergrund:
Seit mehr als zehn Jahren ersetzt der Europäische Haftbefehl (EuHB) – der zuletzt durch den Fall des abgesetzten katalonischen Regierungschefs Puigdemont in den Blick einer breiteren Öffentlichkeit geraten ist – in der EU das bisherige Auslieferungssystem durch einfachere und schnellere Verfahren für die Übergabe gesuchter Personen zu Zwecken der Strafverfolgung, der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung.