
Nachdem zunächst viele Prozesse verschoben wurden, fährt auch die Justiz mit teils eigenen Corona-Regeln langsam wieder den "Betrieb" hochhoch. Das Covid-19 Virus könnte zu einem Digitalisierungsschub in der deutschen Justiz aber auch zu einer Reform der gerichtlichen Verfahrensregeln führen.
Zur Bekämpfung möglicher Ansteckungsgefahren in den Gerichtssälen helfen sich die Gerichte durch diverse Maßnahmen bisher selbst. In der JVA Kassel werden die knapp gewordenen Plexiglas-Schutzwände für die Verwendung in hessischen Gerichtssälen gebaut. verwendet werden. Auf Initiative von Schleswig-Holstein ist nun, laut Bericht von lto, die Einführung eines Epidemiegerichtsgesetzes (EpiGG) geplant.
Zum Schutz vor Ansteckungsgefahren wird in den Gerichtssälen stark improvisiert
Da es an gesetzlichen Regelungen für die Durchführung von Gerichtsverfahren im Epidemiefall in den diversen Verfahrensordnungen fehlt, bewegen sich die Gerichte im Rahmen der Maßnahmen zur Eindämmung der Ansteckungsgefahr in den Gerichtssälen zur Zeit auf rechtlich unsicherem Terrain. Sei es die Verpflichtung zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes im Gerichtssaal, sei es die Festlegung von Höchstgrenzen bei der Zuschauerzahl, sei es die Verteilung der Kammer-Mitglieder eines Gerichts wegen der nicht möglichen Einhaltung des Mindestabstandes auf der Gerichtsbank im Zuschauerraum - das alles wird von den Verfahrensordnungen nicht geregelt und wird auch nicht immer von allen Beteiligten klaglos hingenommen.
Gründliche Beratung vor Einführung eines EpiGG
Die geplante Gesetzesinitiative aus Schleswig-Holstein zielt auf mehr Rechtssicherheit bei der Durchführung von Gerichtsverfahren während einer Pandemie. Der Entwurf sieht für den Epidemiefall u.a.
- die Möglichkeit der Einschränkung der Öffentlichkeit bei Gerichtsverhandlungen
- sowie die Durchführung von Gerichtsterminen per Videokonferenz vor.
Das als Epidemiegerichtsgesetz geplante Regelwerk, soll für alle Gerichtsverfahren, also für zivilrechtliche, strafrechtliche und verwaltungsrechtliche Verfahren sowie für die Finanzgerichtsbarkeit gelten und damit den jeweiligen Verfahrensordnungen vorgelagert sein. Nach Informationen von „Legal Tribune Online“ soll der Entwurf aber nicht im Schnellverfahren umgesetzt, sondern zunächst auf der Justizministerkonferenz im Herbst ausführlich beraten werden.
ZPO lässt Gerichtsverhandlungen per Videokonferenz schon jetzt zu
Nach den Regeln der ZPO ist die Durchführung von Gerichtsverhandlungen per Videokonferenz schon jetzt möglich. Gemäß § 128 a ZPO kann das Gericht den Parteien, ihren Bevollmächtigten, Zeugen oder Sachverständigen gestatten, sich während der mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen.
Die Verhandlung ist dann in Bild und Ton sowohl in den Gerichtssaal als auch an den außergerichtlichen Aufenthaltsort zu übertragen. Für die Verfahrensbeteiligten genügt zu diesem Zweck ein Notebook mit Kamera. → Auswirkungen des Coronavirus auf Zivilprozesse.
Vielen Gerichten fehlt die erforderliche technische Ausstattung
In den verschiedenen Bundesländern wird diese Technik bisher unterschiedlich häufig eingesetzt. Beim LG Düsseldorf, dem LG Berlin und dem LG Hannover wird die Videokonferenz erfolgreich seit vielen Monaten angewendet.
Teilweise wird diese Technik genutzt, um bei nicht zu komplexen Verhandlungen Verfahrensbeteiligten eine weite Anreise und damit Kosten für alle Prozessbeteiligten zu sparen. Zurzeit wird die Videokonferenz vor allem zu dem Zweck genutzt, um eine zu große Nähe in den Gerichtssälen zu vermeiden. Die meisten Gerichte wenden hierbei das Programm „Skype for Business“ an. Die Verhandlung wird im Sitzungssaal so übertragen, dass auch dort anwesende Zuschauer der Verhandlung in vollem Umfange folgen können. Der Öffentlichkeitsgrundsatz bleibt damit gewahrt. Nicht alle Gerichte verfügen aber über die erforderliche technische Ausstattung.
Ausdehnung des schriftlichen Verfahrens auf Arbeitsgerichtsprozesse?
Speziell für Arbeitsgerichtsverfahren schlägt die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, Ingrid Schmidt, vor, die Möglichkeit der Durchführung des schriftlichen Verfahrens statt der mündlichen Verhandlung für Arbeitsgerichtsprozesse im Pandemiefall deutlich auszuweiten. Eine schnelle Umstellung auf die Videokonferenz hält die Gerichtspräsidentin für nicht durchführbar, da vielen Arbeitsgerichten die erforderliche technische Ausstattung noch fehlt.
In Strafprozessen ist Videotechnik die Ausnahme
In Strafprozessen ist die Verhandlung per Videokonferenz nicht ohne weiteres rechtlich möglich. Nur in Ausnahmefällen, wenn zum Beispiel das Opfer einer Sexualstraftat vor der direkten Konfrontation mit dem Angeklagten geschützt werden soll, ist die Zeugenvernehmung über eine Videokonferenz im Strafverfahren erlaubt, im übrigen herrscht im Strafverfahren der Grundsatz der Unmittelbarkeit, d.h. Angeklagte und Zeugen müssen physisch anwesend sein, §§ 230 Abs. 1, 250 StPO. Hier könnte im Pandemiefall also nur eine gesetzliche Regelung helfen.
Strafverfahren werden wegen Corona verkürzt oder sogar eingestellt
Diese Rechtslage hat bei einigen Gerichten bereits zu ungewöhnlichen Maßnahmen geführt. So hat das LG Bonn den dort anhängigen und in den Medien viel beachteten Strafprozess zu den Cum-Ex-Geschäften dadurch „gerettet“, dass es das Verfahren wegen der Corona-Pandemie durch einen verfahrensrechtlichen „Trick“ deutlich verkürzt hat. Die Kammer hat von einer Einziehungsbeteiligung von vier der fünf im Prozess vertretenen Banken abgesehen, obwohl ihnen die Mitverursachung eines Steuerschadens von knapp 450 Millionen Euro vorgeworfen wurde (LG Bonn, Urteil v. 18.2020,62 KLs 1/19). Das vor dem LG Duisburg geführte Love-Parade-Verfahren wurde wohl auch wegen der coronabedingten Verfahrensverzögerungen sogar endgültig eingestellt.
Strafrechtler sehen Verfahren per Video eher skeptisch
Strafverteidiger und Richter warnen vor einer zu starken Ausweitung des Videoprozesses im Strafverfahren. Gerade im Strafverfahren sei der persönliche Eindruck des Gerichts und auch der sonstigen Verfahrensbeteiligten von Zeugen, aber auch von Sachverständigen für die Entscheidungsfindung von hoher Bedeutung. Die Vernehmung im Rahmen einer Videoübertragung könne nicht den gleichen persönlichen Eindruck wie die unmittelbare Konfrontation im Gerichtssaal vermitteln.
Ist die Videokonferenz der Zivilprozess der Zukunft?
Vor allem für Zivilprozesse könnte die jetzige Situation ein Anstoß zu einer Digitalisierungswelle an den Gerichten sein. Da die ZPO die mündliche Verhandlung per Videokonferenz ohnehin schon erlaubt, ist die mangelnde Verbreitung dieser Verhandlungsform wohl eher eine Folge der mangelnden technischen Ausstattung vieler Gerichte. Eine zeitgemäße technische Ausstattung der Gerichte ist daher mindestens ebenso dringlich wie eine Reform des Verfahrensrechts.
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