
Einige Corona-Schutzverordnungen sehen Ausgangsbeschränkungen vor. Die häusliche Unterkunft darf danach nur „mit triftigem Grund“ verlassen werden. Der BGH hatte – unter dem Gesichtspunkt eines Verfahrensverstoßes in einem Berufungsverfahren - darüber zu entscheiden, ob dies Menschen daran hindert, als Öffentlichkeit an Gerichtsverhandlungen teilzunehmen.
Die Rechtsfrage, ob auch Gerichtspublikum, also keine direkten Verfahrensbeteiligten, sich trotz Ausgangssperre zum und in das Gericht begeben durften, hatte der BGH im Rahmen eines Verfahrensfehlers in einer Berufung in einem Strafverfahren zu prüfen.
Gerihtsverhandlung betraff gefährliche Fluchtfahrt mit Kollateralschaden
Das Führen eines nicht zugelassenen Pkws ohne Fahrerlaubnis hätte dem Fahrer bei der Verkehrskontrolle, auf die er zufuhr, nicht gut zu Gesicht gestanden. Also gab er Gas. Danach verlief alles wie in einem schlechten Film. Auf seiner dramatischen, vergeblichen Flucht vor dem ihm folgenden Polizeifahrzeug beging der Fahrer unzählige Verkehrsverstöße, demolierte Autos bis zum Totalschaden und verletzte mehrere Menschen.
Gefängnisstrafe mit Revision angegriffen
So fand sich der Angeklagte im März 2020 vor der Strafkammer des Landgerichts Chemnitz wieder. Das Verdikt am Ende der drei Verhandlungstage: drei Jahre und zehn Monate Freiheitsstrafe. Der Verurteilte ging in Revision. Er griff die Entscheidung unter mehreren Gesichtspunkten an. Dabei bemängelte er auch das Unterbinden von Öffentlichkeit.
Während der Strafverhandlung herrschte coronabedingte Ausgangssperre
Einer der Angriffspunkte, die die Strafverteidigung vorbrachte, war die Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit (§ 169 Abs. 1 S. 1 GVG). Sie argumentierte mit der zur Zeit der Hauptverhandlung geltenden sächsischen Corona-Schutzverordnung, die das Verlassen der Wohnung nur mit triftigem Grund erlaubte. Unbeteiligten Zuschauern sei deshalb das Teilnehmen als Öffentlichkeit an dem Prozess untersagt gewesen.
Zuschauer als Kontrolleure der Richter und Hüter der Rechtsstaatlichkeit
Der Öffentlichkeitsgrundsatz soll eine Kontrolle der Justiz durch die am Verfahren nicht beteiligte Öffentlichkeit ermöglichen und ist historisch als unverzichtbares Institut zur Verhinderung obrigkeitlicher Willkür verankert worden. Ein Verstoß gegen diesen Grundsatz ist als absoluter Revisionsgrund eingestuft (§ 338 S. 1 Nr. 1 StPO).
BGH: Besuchen einer Gerichtsverhandlung natürlich erlaubt
Wegen der indiskutablen höchsten Wichtigkeit des Öffentlichkeitsgrundsatzes hat der BGH in seiner Entscheidung zu diesem Thema nicht viele Worte verloren. Für ihn
„… steht außer Frage, dass das Verlassen der häuslichen Unterkunft zur Teilnahme an öffentlichen Gerichtsverhandlungen einen triftigen Grund begründet…“
Corona-Verordnung kein taugliches Angriffsmittel gegen gerichtliche Entscheidung
Die Corona-Verordnung verletzte damit nicht den Öffentlichkeitsgrundsatz und jedenfalls aus diesem Grund ließ sich die ursprüngliche Entscheidung des Landgerichts Chemnitz nicht erfolgreich angreifen.
Zurückverweisung der Sache und neue Entscheidung
Das Chemnitzer Urteil fiel dennoch in der Revision in sich zusammen. Der BGH hatte viel an der Entscheidungsfindung der Kollegen auszusetzen, sodass der Angeklagte eine erneute Verhandlung vor einer anderen Landgerichtskammer zugestanden bekam.
(BGH, Beschluss v. 17.11.2020, 4 StR 390/20).
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Hintergrund: Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung / Saalöffentlichkeit
Prozessbesucher und -beobachter müssen die Möglichkeit haben, während der Verhandlung im Gerichtssaal anwesend sein zu können (BVerfG, Urteil v. 24.01.2001, 1 BvR 2623/95). Damit soll in erster Linie die Kontrolle des Verfahrensgangs durch die Allgemeinheit ermöglicht werden. Die Öffentlichkeit ist gewährleistet, wenn sich jedermann ohne besondere Schwierigkeiten von dem Termin Kenntnis verschaffen kann und wenn der Zutritt iRd tatsächlichen Gegebenheiten eröffnet ist (BVerfG, Beschluss v.10.10.2001, 2 BvR 1620/01).
Der Öffentlichkeitsgrundsatz ist verletzt, wenn dem Gericht bekannte Umstände Besuchern den Eindruck vermitteln, ihnen sei der Zutritt verwehrt, etwa durch ein Schild ›Nicht öffentlich‹ (Celle NStZ 12, 654). Auf einen Wechsel des Sitzungssaals ist hinzuweisen (Dresden StV 09, 682). Einlasskontrollen verstoßen nicht gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz (OVG Berlin-Brandbg NJW 10, 1620) und bedürfen auch keiner Einzelfallprüfung (BGH NJW 10, 533).
Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung gebietet es nicht, dass jedermann weiß, wann und wo ein erkennendes Gericht eine Hauptverhandlung abhält. Es genügt vielmehr, dass jedermann die Möglichkeit hat, sich ohne besondere Schwierigkeiten davon Kenntnis zu verschaffen. Dem wird in der Praxis durch ein Terminsverzeichnis Rechnung getragen, das vor dem ersten Termin am Eingang zum Sitzungszimmer auszuhängen ist.
Der Ausschluss der Öffentlichkeit kann nur unter bestimmten, im Gesetz niedergelegten Voraussetzungen beschlossen werden. Liegen sie nicht vor, darf ein Ausschluss nicht erfolgen; es ist auch nicht erlaubt, diesen Ausschluss auf freiwilliger Basis zu erreichen (BGH NStZ 93, 450).
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