Anwalt muss blindem Mandanten Dokumente vorlesen

Sehbehinderte oder blinde Personen haben nach § 191a GVG einen Anspruch darauf, dass ihnen das Gericht sämtliche das Verfahren betreffende Dokumente in Blindenschrift übermittelt. Doch von diesem  Grundsatz gibt es Ausnahmen, wie eine neue Entscheidung des Bundesgerichtshofs zeigt.

Der Fall betraf einen von drei Gesellschaftern, der sich plötzlich einer Zahlungsklage aus einem Vertrag mit einer externen Person konfrontiert sah. Der beklagte Gesellschafter ist blind und nach der internen Geschäftsverteilung für alle kaufmännischen Angelegenheiten verantwortlich und damit auch für die mit der finanziellen Abwicklung von Verträgen verbundenen Streitigkeiten zuständig.

Das AG hat der Klage stattgegeben. Dagegen haben die Beklagten Berufung eingelegt. Sie haben beantragt, alle Prozessunterlagen auch der zweiten Instanz sowohl in Klarschrift wie auch in jeweils einer Ausfertigung in Blindenschrift an die Prozessbevollmächtigten zweiter Instanz des blinden Gesellschafters zu übermitteln. Das LG hat den Antrag zurückgewiesen und die Rechtsbeschwerde zugelassen, die allerdings ohne Erfolg blieb.

Blindenschrift kein absolutes Muss

Eine blinde oder sehbehinderte Person kann verlangen, dass ihr die für sie bestimmten gerichtlichen Dokumente auch in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden, soweit dies zur Wahrnehmung ihrer Rechte im Verfahren erforderlich ist. Die auf der Grundlage des § 191a GVG erlassene Verordnung zur barrierefreien Zugänglichmachung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte Personen in gerichtlichen Verfahren (ZugänglichmachungsVO – ZMV) bestimmt, unter welchen Voraussetzungen und in welcher Weise einer blinden oder sehbehinderten Person die für sie bestimmten gerichtlichen Dokumente und die von den Parteien zu den Akten gereichten Dokumente zugänglich gemacht werden, sowie ob und wie diese Person bei der Wahrung ihrer Rechte mitzuwirken hat.

Anwalt ist ja auch noch da

Das Landgericht habe, so der BGH, ohne Rechtsfehler angenommen, dass es nicht erforderlich ist, dem blinden Gesellschafter im Berufungsverfahren des vorliegenden Rechtsstreits alle Prozessunterlagen auch in Blindenschrift zugänglich zu machen. Dessen bedarf es nicht, weil er durch einen Rechtsanwalt vertreten wird und der Streitstoff nach den Feststellungen des LG so übersichtlich ist, dass er dem Gesellschafter durch seinen Rechtsanwalt grundsätzlich gut vermittelbar ist. Nur wenn der blinden Person die Einsichtsfähigkeit bei einer mündlichen Vermittlung des Streitstandes durch den Anwalt fehle, müssten die Dokumente trotz einfachem Streitstoff in Blindenschrift übermittelt werden.

Blindes Vertrauen zum Anwalt

Mit der Rechtsbeschwerde rügte der blinde Gesellschafter, dass er damit keine Möglichkeit habe, seinn Anwalt zu kontrollieren. Anders der BGH: Die Zugänglichmachung der Dokumente solle der berechtigten Person die Wahrnehmung ihrer Rechte im Verfahren und nicht die Kontrolle der Tätigkeit ihres Rechtsanwalts ermöglichen.

  • Auch eine nicht sehbehinderte und nicht rechtskundige Person müsse im Falle ihrer Vertretung durch einen Rechtsanwalt darauf vertrauen, dass dieser ihre Rechte und Interessen im Verfahren ordnungsgemäß wahrnimmt.

  • Der berechtigten Person werde die Wahrnehmung ihrer Interessen entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde auch dann nicht in unzumutbarer Weise erschwert, wenn sich die Komplexität eines Rechtsstreits erst im Laufe des Verfahrens ergeben sollte.

In einem solchen Fall seien der sehbehinderten Person die Dokumente auch nachträglich in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich zu machen, soweit dies zur Wahrnehmung ihrer Rechte im Verfahren erforderlich sein sollte. Soweit sich daraus Verfahrensverzögerungen ergäben, weil der Betroffene nach dem Selbststudium der Gerichtsdokumente noch ergänzenden Vortrag für erforderlich hält, sei dies hinzunehmen.

Anwalt als Vorleser

Auch das Argument, es gehöre nicht zu den Aufgaben eines Anwalts, seinen Mandanten die Wahrnehmung von Gerichtsdokumenten zu ermöglichen und Schriftsätze vorzulesen, ließ der BGH nicht gelten. Zu den Aufgaben eines Rechtsanwalts könne es durchaus gehören, einem sehbehinderten Mandanten den wesentlichen Inhalt der Dokumente des Verfahrens zu vermitteln. Es sei nicht ersichtlich, dass eine sachgerechte rechtliche Bearbeitung der Angelegenheit dadurch deutlich erschwert werde.

(BGH, Beschluss vom 10. 1. 2013, I ZB 70/12). 

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