Zoff des Bundeswahlleiters und der Meinungsforschungsinstitute

Das Meinungsforschungsinstitut Forsa bezieht in seine regelmäßigen Sonntagsfrage „Wen würden Sie wählen, wenn…?“ auch Briefwähler ein, die schon gewählt haben. Dies ist nach einer Entscheidung des VG Wiesbaden zulässig.

Der Bundeswahlleiter hat in seinem Bemühen, den möglichen Einfluss der Meinungsforschungsinstitute auf das Ergebnis der Bundestagswahl einzudämmen, vor dem VG Wiesbaden eine Niederlage erlitten.

Bundeswahlleiter kritisiert die Einbeziehung von Briefwählern in Wählerbefragungen

Dem Bundeswahlleiter Georg Thiel ist die Praxis verschiedener Meinungsforschungsinstitute, in ihre Wahlumfragen auch Briefwähler einzubeziehen, die zumindest teilweise bereits gewählt haben, ein Dorn im Auge. Er sieht in der Publizierung der Befragungsergebnisse eine rechtlich unzulässige Vorabveröffentlichung von Wahlergebnissen.

Veröffentlichung von Stimmabgabeergebnissen erst nach Wahlschluss

Der Bundeswahlleiter stützt seinen Vorwurf auf § 32 Abs. 2 des BWahlG. Danach ist die Veröffentlichung von Ergebnissen von Wählerbefragungen nach der Stimmabgabe über den Inhalt der Wahlentscheidung vor Ablauf der Wahlzeit unzulässig. Aus diesem Grunde werden am Tag der Bundestagswahl Wählerbefragungen erst ab 18:00 Uhr, also nachdem die Wahllokale geschlossen haben, der Öffentlichkeit präsentiert.

Forsa stellt ausdrücklich Frage zur Briefwahl

Vor diesem Hintergrund hält der Bundeswahlleiter die Veröffentlichung von Wählerbefragungen, in denen die Befragungsergebnisse von Briefwählern enthalten sind, die bereits gewählt haben, für rechtlich unzulässig. Dies gelte insbesondere dann, wenn ein Meinungsforschungsinstitut wie Forsa seine Befragung um die Frage ergänzt, ob der Befragte seine Stimme bereits im Wege der Briefwahl abgegeben hat und wenn ja für wen.

Bundeswahlleiter drohte Meinungsforschungsinstituten mit Bußgeld

Wegen dieser Praxis der Meinungsforschungsinstitute hatte der Bundeswahlleiter verschiedene Institute, darunter auch Forsa, Anfang September aufgefordert, zur anstehenden Bundestagswahl keine Ergebnisse der Sonntagsumfrage mehr zu veröffentlichen, in denen Briefwahlergebnisse mit einbezogen sind. Für den Fall der Nichtbeachtung dieser Anordnung hatte er den Meinungsforschungsinstituten die Verhängung eines Bußgeldes angedroht.

Forsa beantragte einstweiligen Rechtsschutz gegen Wahlleiteranordnung

Forsa sah in dieser Anordnung einen unzulässigen Eingriff in seine Tätigkeit sowie den Versuch einer indirekten Wahlmanipulation. Die Anordnung hindere die Institute daran, ihre Aufgaben adäquat wahrzunehmen. Würden die Institute die Meinung von Briefwählern nicht berücksichtigen, würde der Stand der Meinungsbildung nicht mehr adäquat abgebildet, die Ergebnisse der Umfragen würden gegenüber der tatsächlichen Wählermeinung in eine Schieflage geraten. Mit dieser Argumentation hat Forsa beim VG Wiesbaden einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gegen die Anordnung des Bundeswahlleiters eingereicht.

Bundeswahlleiter unterliegt dem VG

Das VG Wiesbaden hat dem Eilantrag von Forsa entsprochen und die Anordnung für rechtswidrig erklärt. Ein Verstoß gegen § 32 Abs. 2 BWahlG konnte das VG nicht erkennen. Bei der Veröffentlichung der Ergebnisse der Sonntagsfrage handle es sich nur sehr indirekt um eine Bekanntgabe von Wahlergebnissen nach der Stimmabgabe. Die Angaben der Briefwähler, die bereits ihre Stimme abgegeben haben, seien sowohl mit den Angaben der anderen Briefwähler als auch mit den Antworten der Nicht-Briefwähler in einer Weise vermischt („aggregiert“), dass eine Identifizierbarkeit der Zahl der Briefwähler, die bereits gewählt haben, nicht annähernd gegeben sei.

VG bewertet Anordnung des Bundeswahlleiters als verfassungswidrig

Im übrigen verstößt die Anordnung des Bundeswahlleiters nach der Entscheidung des VG gegen Verfassungsrecht. Nach Auffassung des VG Wiesbaden gilt die nach Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Handlungsfreiheit auch für die Tätigkeit der Meinungsforschungsinstitute. Das Gleiche gelte für das gemäß Art. 5 Abs. 1 GG geschützte Recht auf freie Berichterstattung. Hiernach seien staatliche Behörden grundsätzlich nicht befugt, auf die Berichterstattung der Medien Einfluss zu nehmen, falls dies nicht aufgrund anderer gewichtiger Rechtsgüter unabdingbar sei.

Wählerbefragungen als Element des Meinungsbildungsprozesses

Eine solche Beeinträchtigung höherrangigen Rechtsgüter durch die Veröffentlichung von Meinungsumfragen unter Einbeziehung von Briefwählern konnte das VG nicht feststellen. Nach Auffassung des VG wird die freie Bildung des Wählerwillens durch die Veröffentlichung von Umfragen auch unter Einbeziehung von Briefwählern, die ihre Wahlentscheidung bereits getroffen und ihren Stimmzettel bereits eingeschickt haben, nicht beeinträchtigt. Das VG sah vielmehr umgekehrt das Informationsinteresse der Öffentlichkeit beeinträchtigt, wenn dieser solche objektiven Informationen vorenthalten würden. Die Veröffentlichung von Wählerbefragungen sei ein festes „Element der Wahlkampfberichterstattung“ geworden und habe einen gefestigten „Platz im öffentlichen Diskurs und Meinungsbildungsprozess“.

Bundeswahlleiter rügt steigenden Einfluss der Meinungsforschungsinstitute

Der Bundeswahlleiter sieht die Entscheidung des VG kritisch. Er hält den demokratischen Grundsatz des „Exit polls für verletzt, also den Grundsatz, dass Wahlergebnisse erst nach Abschluss der Wahl veröffentlicht werden dürfen. Wenn dieser Grundsatz in Bezug auf Briefwähler auch nur partiell außer Kraft gesetzt werde, werde der Einfluss der Umfrageinstitute auf das Wahlergebnis, der schon jetzt als kritisch zu bewerten sei, weiter zunehmen. Dieses Argument sei in der Bundestagswahl 2021 von besonderem Gewicht, da die Zahl der Briefwähler gegenüber bisherigen Wahlen erheblich steige und möglicherweise um die 40 % liege.

Bundeswahlleiter prüft Rechtsmitteleinlegung

Gegen die Entscheidung des VG ist das Rechtsmittel der Beschwerde möglich. Der Bundeswahlleiter lässt zurzeit die Entscheidungsbegründung sowie die Erfolgsaussichten einer Beschwerde rechtlich prüfen.


(VG Wiesbaden, Beschluss v. 16.9.2021, 6 L 1174/21.WI)