Ungesühnte deutsche Kriegsverbrechen in Sant' Anna Stazzema

12. August 1944 in dem kleinen Dorf Sant' Anna Stazzema in der West-Toskana: Soldaten der Waffen-SS erschießen gnadenlos Kinder, Frauen und Alte. Ca. 560 Menschen werden auf dem Kirchplatz niedergemetzelt. Einige wenige Überlebende erinnerten zum 75. Jahrestag an das Massaker, dessen juristische Aufarbeitung verschleppt wurde.

Viele der Täter sind bzw. waren bekannt. Zehn SS-Mitglieder wurden nach dem Krieg in Italien wegen des unmenschlichen Massakers verurteilt. Tatsächlich bestraft wurde keiner von den Zehn, da Deutschland die von Italien beantragte Auslieferung verweigerte und die deutschen Ermittlungsverfahren ohne Ergebnis blieben.

Partisanen versteckten sich in Bergdörfern

Die Waffen-SS begründete den Überfall auf das Dorf in den Apuanischen Alpen mit der Vermutung, dass sich dort eine größere Gruppe Partisanen aufhalte. Italienische Widerstandskämpfer, insbesondere aus den Küstenstädten, suchten häufig in abgelegenen Bergdörfern der Toskana Schutz vor den Deutschen. Als die Männer des Dorfes von der Annäherung der Waffen-SS erfuhren, flüchteten sie und ließen Frauen, Kinder und Alte zurück. Die Männer befürchteten, als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt zu werden. Sie hofften, dass die Deutschen den zurückgelassenen, hilflosen Zivilpersonen  nichts tun würden.

Für jeden toten Deutschen zehn tote Italiener

Diese Hoffnung erwies sich als verhängnisvoller Irrtum. Schon einige Wochen zuvor hatten Wehrmacht und SS unter Führung von Generalfeldmarschall Albert Kesselring, Oberbefehlshaber der Wehrmacht und der SS in Italien, die Losung ausgegeben, Partisanen und Widerständler mit harten Sühnemaßnahmen zu belegen. Die Parole lautete: Für jeden getöteten Deutschen müssen zehn Italiener mit dem Leben bezahlen. Zivilisten waren dabei ausdrücklich nicht auszunehmen. Die SS ließ die im Bergdorf Sant`Anna di Stazzema verbliebenen Personen auf dem Kirchplatz zusammentreiben, wo sie mit Maschinengewehrsalven erschossen wurden. Nach Augenzeugenberichten warfen die Soldaten Kirchenbänke über die Toten und zündeten diese mit Benzin an. Viele der verbrannten Leichen konnten später nicht mehr identifiziert werden

Italienische Justiz zeigte sich an der Strafverfolgung erstaunlich desinteressiert

In Italien wurde das Kriegsverbrechen lange von den Justizbehörden nicht verfolgt. Als Grund wird vermutet, so Klaus Hempel auf tagesschau.de, dass Italien die in den 1950-er Jahren eingeleitete Wiederbewaffnung Deutschlands nicht erschweren wollte. Die Bundesrepublik bemühte sich in dieser Zeit weltweit um die Freilassung von in Haft befindlichen Kriegsgefangenen und machte die Freilassungen zu einer ungeschriebenen Bedingung für die Wiederbewaffnung.

Die im Jahre 1958 zur Aufklärung der Naziverbrechen gegründete Ludwigsburger Behörde hatte zwar die Aufgabe, NS-Verbrechen, vor allem die in Konzentrationslagern aufzuklären, nicht aber die im Ausland begangenen Kriegsverbrechen. Eine Behörde zur Aufklärung dieser Verbrechen existierte nicht.

Langwierige, mäßig erfolgreiche Ermittlungsverfahren

Als im Jahre 1994 Unterlagen über die Grausamkeiten in Sant' Anna di Stazzema in einem mutmaßlich bewusst von den Behörden unter Verschluss gehaltenen „Schrank der Schande“ wiederentdeckt wurden, machten sich italienische Staatsanwälte an die Aufarbeitung der Geschehnisse. Auch die Staatsanwaltschaft Stuttgart leitete im Jahre 2002 mehrere Ermittlungsverfahren gegen ehemalige SS Angehörige ein. In Italien wurde zehn Jahre nach Aufnahme der Ermittlungen im Jahr 2004 das gerichtliche Strafverfahren gegen einige der Täter eröffnet. Zehn ehemalige SS-Angehörige wurden wegen Beteiligung an dem Massaker in Abwesenheit  zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Eine Auslieferung seitens Deutschland erfolgte nicht.

Stuttgarter Ermittlungsverfahren ausnahmslos eingestellt

Nach ebenfalls zehnjährigen Ermittlungen stellte die Stuttgarter Staatsanwaltschaft sämtliche Ermittlungsverfahren im Jahr 2012 ein. Begründung: Keinem der Beschuldigten könne eine individuelle Schuld nachgewiesen werden. Dieses Ergebnis war logische Folge der jahrzehntelangen vom BGH gebilligten Rechtsprechung, dass eine Verurteilung wegen Beteiligung an in der Nazizeit begangenen Tötungsdelikten den unbedingten Nachweis eines konkreten Tatbeitrages an dem vorgeworfenen Tötungsdelikt erfordert (BGH, Urteil v. 20.2.1969, 2 StR 280/67). Diese Rechtsprechung verhinderte über Jahrzehnte eine Bestrafung der Handlanger der NS-Tötungsmaschinerie.

Änderung der Rechtsprechung erst 2011

Erst der vom LG München geführte Demjanjuk-Prozess läutete die Wende in dieser umstrittenen Rechtsprechung ein. Das LG München verurteilte den n ehemaligen Wachmann des Konzentrationslagers Sobibor wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 28.000 Personen, obwohl dem Angeklagten keine konkreten Teilnahmehandlungen an einzelnen Tötungen nachgewiesen werden konnten.

Das LG knüpfte die Verurteilung daran, dass der Angeklagte sich wissentlich und willentlich in das Räderwerk einer Tötungsmaschinerie habe einspannen lassen und sich daher der Beihilfe schuldig gemacht habe. (LG München, Urteil v. 12.5.2011, 1 Ks 12496/08).

Die Wende in der Rechtsprechung kam zu spät

Die vom LG München eingeleitete Wende in der Rechtsprechung bestätigte der BGH im Fall der Verurteilung des früheren SS-Manns Oskar Gröning, dem Buchhalter von Auschwitz, wegen seiner Einbindung als Wachmann in die Todesmaschinerie des Konzentrationslagers Auschwitz Birkenau (BGH, Beschlüsse v. 20.9.2016, 3 StR 49/16). Diese Änderung der Rechtsprechung konnte allerdings nicht verhindern, dass ein in Hamburg laufendes Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit dem Toskana-Massaker gegen den früheren SS-Kompaniechef Gerhard Sommer mit der Begründung eingestellt wurde, dass der 93-jährige Beschuldigte wegen schwerer Demenz nicht mehr verhandlungsfähig war.

Aufarbeitung von Kriegsverbrechen in Deutschland nahezu komplett misslungen

Oberstaatsanwalt Jens Rommel von der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen mit Sitz in Ludwigsburg resümiert, dass die rechtsstaatliche Aufarbeitung von Kriegsverbrechen wie dem in Sant`Anna di Stazzema in Deutschland nicht gelungen sei, obwohl viele dieser Verbrechen und ihr Ablauf teilweise bis in die Einzelheiten bekannt seien. Für die Beseitigung dieser Aufarbeitungsdefizite sei es in den meisten Fällen nun endgültig zu spät. Diese Verbrechen blieben wohl endgültig ungesühnt.

Die größte Katastrophe wäre das Vergessen

Am 12. August dieses Jahres, dem 75. Jahrestag des Massakers von Sant`Anna di Stazzema, wurde das nordrhein-westfälische Moers Partnerstadt des italienischen Ortes. Gemeinsam wollen beide Gemeinden angesichts des in Deutschland und Italien wieder erstarkenden nationalistischen Gedankenguts verhindern, dass das Verbrechen gegen die Menschlichkeit vom August 1944 jemals in Vergessenheit gerät und sich ein solches Massaker nicht wiederholt.

Einer wurde bestraft

Indirekt bestraft wegen des Massakers von Sant`Anna di Stazzema wurde lediglich Generalfeldmarschall Albert Kesselring, Oberbefehlshaber der Wehrmacht und der SS in Italien, dem die Bekämpfung der italienischen Partisanen oblag. Als Kriegsverbrecher wurde er nach dem Krieg von den Alliierten im Jahr 1947 zum Tode durch Erschießen verurteilt. Das Urteil wurde wenig später in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt. Als der Inhaftierte an Krebs erkrankte, wurde er bereits 1952 begnadigt und vorzeitig aus der Haft entlassen. Anschließend veröffentlichte er seine Memoiren, in denen er sich in keiner Weise von der NS-Zeit distanzierte. Bis zum Jahr 1960 leitete er vielmehr den „Bund der Frontsoldaten-Stahlhelm“, eine Nachfolgeorganisation des während der NS-Zeit agierenden rechtsnationalen, antidemokratischen und antisemitischen Bundes „Stahlhelm“. Trotz des erheblichen Maßes an Gnade, dass ihm nach dem Krieg zuteil geworden war, blieb er - wie viele andere - ein ewig Unverbesserlicher.

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