Strafgefangener hat Anspruch auf Anklopfen vor Betreten der Zelle

Dies Minimum an Menschenwürde und Umgangsformen, Anklopfen vor dem Eintreten, im Ernstfall warten, hat das BVerfG  für Einzelzellen klargestellt. Die Verfassungsbeschwerde des Strafgefangenen, der die Anbringung eines Sichtschutzvorhangs in seiner Einzelzelle erreichen wollte, haben die Verfassungsrichter allerdings nicht zur Entscheidung angenommen.

Ein langjährig Inhaftierter hatte sich bei der Gefängnisleitung über die Verletzung seiner Intimsphäre durch die Gestaltung seiner Zelle beschwert. Da die in der Einzelzelle befindliche Toilette nicht durch einen Sichtschutz von dem übrigen Raum abgetrennt sei, sei er bei Verrichtung seiner Notdurft unangenehmen Blicken des Gefängnispersonals ausgesetzt.

Gefangener rügt Verletzung seines Persönlichkeitsrechts

Diese Gestaltung der Zelle bewertete der Gefangene als Verletzung seiner Intimsphäre und damit als Beeinträchtigung seines durch die Verfassung geschützten Persönlichkeitsrechts. Der Gefangene beschwerte sich auch darüber, dass die Bediensteten der Justizvollzugsanstalt permanent die Weisung des Landesjustizministeriums missachteten, wonach der Schutz der Intimsphäre der Gefangenen zu wahren sei und die Bediensteten vor Betreten der Zellen durch vorheriges Anklopfen auf ihre Absicht, die Zelle zu betreten, aufmerksam machen müssen.

Kein Sichtschutz vor der Toilette: Laut BVerfG gehen Sicherheit und Ordnung gehen vor

Mit seinen Beschwerden gegen diese nach Auffassung des Beschwerdeführers unwürdigen Zustände hatte der Gefangene weder bei der Strafvollstreckungskammer des LG Koblenz noch im Beschwerdeverfahren beim OLG Erfolg.

Die Instanzgerichte betonten die Notwendigkeit der blickmäßigen Überwachung von Gefängniszellen sowohl zur Wahrung der Sicherheit und Ordnung in den Haftanstalten als auch im Hinblick auf den Schutz der Gefangenen vor Selbstgefährdung.

Kein verfassungsmäßiges Recht auf einen Sichtschutz

Auch die Verfassungsbeschwerde des Gefangenen führte nicht zum gewünschten Erfolg. Nach Auffassung der deutschen Verfassungsrichter kann aus dem GG kein Anspruch auf Installation eines Sichtschutzvorganges, sog. „Schamvorhang“, in einer Einzelzelle abgeleitet werden (anders verhält es sich in einer Gemeinschaftszelle). Auch unter Einbeziehung internationaler Standards werde die Menschenwürde des Gefangenen durch das Fehlen eines Sichtschutzes nicht verletzt, solange grundsätzlich die Möglichkeit bestehe, körperliche Bedürfnisse unter Wahrung der Intimsphäre zu verrichten (BVerfG, Beschluss v. 13.11.2007, 2 BvR 939/07).

Gefängniswärter müssen - außer im Gefahrenfall - anklopfen und auch abwarten

Nach Auffassung des BVerfG wird dem Schutz der Intimsphäre der Gefangenen dadurch hinreichend Rechnung getragen, dass ein fehlender Sichtschutz zur Toilette einen unmittelbar aus der Verfassung ableitbareren Anspruch des Gefangenen auf besondere Rücksichtnahme durch die Bediensteten der JVA auslöst.

  • Bedienstete, die einen Haftraum ohne Sichtschutz betreten wollen, müssten dies vorher klar vernehmbar ankündigen, beispielsweise durch Anklopfen entsprechend der Weisung des Landes Justizministeriums.
  • Dem Gefangenen müsse hierdurch ein rechtzeitiger Hinweis darauf ermöglicht werden, dass er gerade die Toilette oder die Waschvorrichtung nutze.
  • Das Gefängnispersonal habe dann die Pflicht, vor dem Betreten des Zellenraums eine angemessene Zeitspanne zu warten,
  • um dem Gefangenen die Möglichkeit zu geben, die Verrichtung seiner Notdurft oder einer sonstigen Intimtätigkeit zu beenden.

Die Wartepflicht entfalle allerdings, wenn ein konkreter dringender Anlass zum sofortigen Betreten der Zelle gegeben sei oder wenn die Wahrung der Sicherheitsinteressen der Anstalt dies erforderten.

Inhaftierte verfügen über hinreichende Rechtsbehelfe

Den Anspruch des Gefangenen auf Rücksichtnahme und Wahrung seiner Intimsphäre leitet das BVerfG unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und damit aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und dem Recht auf Schutz der Menschenwürde ab. Verstoße ein Bediensteter gegen das Rücksichtnahmegebot, so stehe dem Gefangenen gemäß § 108 StVollzG ein Beschwerderecht gegenüber der Anstaltsleitung sowie die Option zu, Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 109 StVollzG zu stellen. Mit diesen Rechtsbehelfen sei dem Grundrechtsschutz des Gefangenen Genüge getan. Daneben komme ein aus der Verfassung ableitbareres Recht auf eine konkrete Einzelmaßnahme wie die Anbringung eines Sichtschutzes nicht in Betracht.

Verfassungsbeschwerde unbegründet

Damit war die Verfassungsbeschwerde nach Auffassung der Verfassungsrichter bereits im Ansatz unbegründet und daher nicht zur Entscheidung anzunehmen.

(BVerfG, Beschluss v. 18.3.2020, 2 BvR 1273/19)

Hintergrund: Menschenwürde und Strafvollzug

Mit der Menschenwürde als oberstem Wert des Grundgesetzes und tragendem Konstitutionsprinzip ist der soziale Wert und Achtungsanspruch des Menschen verbunden, der es verbietet, ihn zum bloßen Objekt des Staates zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt. Jedem Menschen ist sie eigen ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status. Was die Achtung der Menschenwürde im Einzelnen erfordert, kann von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht völlig gelöst werden ( BVerfGE 96, 375).

Dieses Recht auf Achtung seiner Würde kann auch dem Straftäter nicht abgesprochen werden. In der Strafvollstreckung ist ebenso wie im Erkenntnisverfahren zu beachten, dass die menschliche Würde unmenschliches, erniedrigendes Strafen verbietet und der Täter nicht unter Verletzung seines verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wert- und Achtungsanspruchs zum bloßen Objekt der Vollstreckung herabgewürdigt werden darf (vgl. BVerfGE 72, 105). Die grundlegenden Voraussetzungen individueller und sozialer Existenz des Menschen müssen erhalten bleiben. Aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ist daher gerade für den Strafvollzug die Verpflichtung des Staates herzuleiten, jenes Existenzminimum zu gewähren, das ein menschenwürdiges Dasein überhaupt erst ausmacht (vgl. BVerfGE 45, 187).
(BVerfG Beschluss v. 27.12.2005 - 1 BvR 1359/05).

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