Stärkere Überprüfung der arbeitsrechtlichen Kirchenentscheidungen

Bei der Kirche Beschäftigte sind den Besonderheiten kirchlichen Arbeitsrechts unterworfen. Hierbei geht das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen über das weltlicher Arbeitgeber, etwa bei der Frage der Lebensführung der Arbeitnehmer (Scheidung etc.), weit hinaus. Der EuGH könnte die gerichtliche Überprüfbarkeit kirchlicher Arbeitsrechtsentscheidungen nun deutlich ausdehnen.

Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung beinhaltet die verfassungsrechtliche Garantie des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften.

Spannungsverhältnis zwischen Kirchenrecht und AGG

Dieses Recht wird insbesondere von der katholischen und evangelischen Kirche gerne genutzt, um die Besetzung von freien Stellen an bestimmte Bedingungen wie die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession oder auch das Zusammenleben in einer kirchlich geschlossenen Ehe zu knüpfen. Dies steht in einem Spannungsverhältnis zum allgemeinen Gleichheitssatz, der eine Diskriminierung bei der Besetzung einer Stelle wegen der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer bestimmten Religion untersagen.

AGG geht weiter als das Europarecht

§ 9 Abs. 1 AGG gesteht als Ausnahmeregelung den Kirchen ausdrücklich das Recht zu,

  • beispielsweise die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion zur Bedienung für eine Einstellung zu machen, wenn die Art der ausgelobten Tätigkeit und das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaft dies als gerechtfertigt erscheinen lassen. 
  • Diese nationale Vorschrift steht wiederum in einem Spannungsverhältnis zu Art. 4 Abs. 2 der EU-Gleichbehandlungsrichtlinie (2000/78/EG), die eine bestimmte Religionszugehörigkeit als Voraussetzung für die Einstellung nur für den Fall zulässt, dass unter Berücksichtigung des Ethos des kirchlichen Arbeitgebers die konkret angebotene Tätigkeit eine Verbindung mit der Religionszugehörigkeit als angemessen erscheinen lässt.

Ob vor diesem Hintergrund die deutlich großzügigere bzw. strengere  - je nach Blickwinkel - deutsche Regelung europarechtskonform ist, ist seit langem umstritten. Die Beantwortung dieser Frage liegt nun dem EuGH zur Prüfung vor.

Stellenausschreibung von Konfessionszugehörigkeit abhängig gemacht

In dem vom EuGH zu entscheidenden Fall geht es um die Bewerbung auf eine Stelle, die vom evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung ausgeschrieben war. Dieses zur evangelischen Kirche gehörende privatrechtliche Hilfswerk verfolgt ausschließlich gemeinnützige, mildtätige und religiöse Zwecke.

  • Die auf 18 Monate befristete Stelle war ausgeschrieben zum Zwecke der Erarbeitung eines Berichts über die Einhaltung des Übereinkommens der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung durch Deutschland.
  • Im Rahmen dieser Tätigkeit war die öffentliche und fachliche Vertretung des evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung sowie die Koordination des Meinungsbildungsprozesses innerhalb dieses Verbandes Teil der Stellenbeschreibung.
  • Die Stellenanzeige endete mit der Bemerkung, dass die Mitgliedschaft in einer evangelischen oder einer der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Deutschland angehörenden Kirche vorausgesetzt werde.

Abgelehnte Bewerberin klagt auf Entschädigung

Eine abgelehnte Bewerberin war der Auffassung, sie sei allein deshalb abgelehnt worden, weil sie keiner Religionsgemeinschaft angehöre.

Sie klagte auf eine Entschädigung von 10.000 Euro wegen Verletzung des Diskriminierungsverbots. In erster und zweiter Instanz blieb ihre Klage ohne Erfolg. Das BAG erkannte nun das bestehende Spannungsverhältnis zum Europarecht und legte dem EuGH verschiedene Rechtsfragen zur Beantwortung vor.

Vorlage zum Kirchenrecht an den EuGH

Das BAG möchte vom EuGH wissen,

  • ob und inwieweit berufliche Anforderungen, die von religiösen Organisationen unter Berufung auf das Privileg der kirchlichen Selbstbestimmung gestellt werden, gerichtlich überprüft werden können.
  • Das Gericht bittet um Klärung, ob die widerstreitenden Interessen, nämlich die Freiheit der Weltanschauung einerseits und das Recht, nicht wegen einer Religion oder Weltanschauung diskriminiert zu werden sowie das Recht der religiösen Organisationen auf Selbstbestimmung und Autonomie anderseits gegeneinander abzuwägen sind.

Generalanwalt plädiert auf gerichtliche Überprüfbarkeit kirchlicher Entscheidungen

Besondere Brisanz hat der Fall nun durch die Schlussanträge des Generalanwalts Evgeni Tanchev erhalten.

  • Der Generalanwalt stellte den besonderen Ausnahmecharakter des den Religionsgemeinschaften eingeräumten Rechts zur Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung eines Bewerbers heraus.
  • Für die Einschlägigkeit der Ausnahme sei maßgebend, ob die Religion oder Weltanschauung einer Person nach der Art der fraglichen Tätigkeiten oder den Umständen ihrer Ausübung angesichts des Ethos der Organisation eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstelle.
  • Hierzu vertritt der Generalanwalt die Auffassung - und das ist das eigentlich Neue -, dass ein Arbeitgeber, also im konkreten Fall das evangelische Werk für Diakonie in der Entwicklung, in anderen Fällen die Kirche, nicht ausschließlich selbst entscheiden dürften, ob diese Voraussetzung erfüllt ist,
  • vielmehr müsse das jeweils zuständige Gericht eines Mitgliedstaates die fraglichen Tätigkeiten, um die es gehe, selbst würdigen und entscheiden, ob die Religion oder Weltanschauung einer Person im konkreten Fall eine wesentliche rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstelle. 

Prüfungspunkte der Gerichte

Dabei hat das Gericht nach Auffassung des Generalanwalts folgende Punkte abzuarbeiten:

  • Eine Analyse der Nähe der ausgeschriebenen Tätigkeit zum Verkündigungsauftrag der jeweiligen Religionsgemeinschaft.
  • Eine Abwägung zwischen den Auswirkungen auf das EU-weit geltende Diskriminierungsverbot und dem Recht der Religionsgemeinschaft auf Autonomie und Selbstbestimmung.
  • Vor diesem Hintergrund seien die Gerichte verpflichtet, alles zu tun, um die nationalen Bestimmungen im Sinne der EU-Richtlinie auszulegen.
  • Sei dies nach dem Wortlaut einer nationalen Bestimmung nicht möglich, so sei ein nationales Gericht allerdings rechtlich gezwungen, die nationale Bestimmung anzuwenden.
  • Soweit das nationale Recht mit dem europäischen Recht nicht in Einklang steht und das EU-Verbot der Diskriminierung verletzt werde, so stehe dem Betroffenen die Möglichkeit offen, gegen das Land (Deutschland) eine Klage auf Schadenersatz aus Staatshaftung zu erheben, da das in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zum Ausdruck kommende Verbot der Diskriminierung kein subjektives Recht sei, das der Betroffene unmittelbar vor den nationalen Gerichten, sondern nur vor den EU-Gerichten auf dem Umweg über eine Entschädigungsklage durchsetzen könne.

Mögliche Auswirkungen auf deutsche Rechtsprechung

Der Schlussantrag des Generalanwalts ist insoweit bemerkenswert, als das BVerfG die betroffenen Fragen bisher anders gewichtet und der Loyalitätspflicht von Arbeitnehmern gegenüber kirchlichen Arbeitgebern und damit dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen einen besonders hohen Stellenwert eingeräumt hat (BVerfG, Beschluss v. 22.10.2014, 2 BvR 661/12). Da der EuGH häufig dazu neigt, den Anträgen des Generalanwalts zu folgen, wird die Entscheidung des EuGH mit Spannung erwartet. Sollte der EuGH im Sinne des Generalanwalts entscheiden, wären hiervon auch deutliche Auswirkungen auf die deutsche Rechtsprechung zu erwarten. Für das kirchliche Arbeitsrecht könnte es ein kleiner Paradigmenwechsel werden.

(EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts vom 9.11.2017, Rechtssache C-414/16).