Sorgerechtsregelung für Kinder einer inhaftierten IS-Rückkehrerin

Was passiert in Deutschland mit Kindern inhaftierter Terroristinnen. Darf einer inhaftierten IS-Rückkehrerin die elterliche Sorge für ihre Kinder entzogen werden? Darf eine IS-Terroristin (mit-)entscheiden, wer ihre Kinder versorgt und erzieht? Das OLG Frankfurt befasste sich mit dieser heiklen Situation.

In einer Grundsatzentscheidung hat das OLG Frankfurt zu diesen Fragen einige wegweisende Überlegungen angestellt und dabei dem grundgesetzlichen Schutz der Familie auch einer IS-Rückkehrerin einen hohen Stellenwert eingeräumt.

Beschwerdeführerin hatte sich dem Islamischen Staat angeschlossen

Das Gericht hatte über die Beschwerde einer Kindesmutter zu befinden, die die deutsche und die syrische Staatsangehörigkeit besitzt. Nachdem sie mehrere Jahre überwiegend in Deutschland gelebt hatte, reiste sie Ende 2014 nach Syrien aus, um sich dort dem sogenannten Islamischen Staat (IS) anzuschließen.

Nach Flucht aus Syrien von der Türkei nach Deutschland abgeschoben

In Syrien schloss sie eine Ehe nach islamischem Recht, aus der zwei Kinder hervorgingen. Nachdem der Ehemann bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen sein soll, schloss die Beschwerdeführerin in Idlib erneut eine islamische Ehe, aus der Zwillinge hervorgingen. Kurz nach der Geburt floh sie mit ihren vier Kindern in die Türkei und wurde von dort Ende 2019 nach Deutschland abgeschoben. Auf dem Flughafen Frankfurt am Main wurde sie von Beamten der Bundespolizei festgenommen und befindet sich seither in Untersuchungshaft.

Sorgerecht für sämtliche Kinder entzogen

Ihre vier Kinder wurden in Bereitschafts-Pflegefamilien untergebracht. Per einstweiliger Anordnung entzog das Familiengericht der Rückkehrerin die elterliche Sorge und übertrug diese auf das Jugendamt. Zur Begründung führte das Gericht unter anderem aus, die Mutter habe sich nicht glaubhaft vom Gedankengut des Islamischen Staates gelöst.

Sie habe nicht plausibel dargelegt, bereit zu sein, die Kinder in einem dem Leitbild der hessischen Verfassung entsprechenden Art und Weise zu erziehen. Gegen diese Anordnung wendete sich die Kindesmutter mit ihrer Beschwerde. Sie wünscht, die Kinder bei ihrer in Deutschland lebenden Mutter, der Großmutter der Kinder, unterzubringen.

Sorgerechtsentzug setzt Kindeswohlgefährdung voraus

Vor dem OLG blieb die Beschwerde erfolglos. Die Voraussetzungen für einen Entzug der elterlichen Sorge durch das Familiengericht lagen nach der Bewertung des Senats vor. Die elterliche Sorge könne gemäß §§ 1666 Abs. 1, 1666 a BGB immer dann entzogen werden,

  • wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet ist und
  • die Eltern entweder nicht gewillt oder nicht der Lage sind, die Gefahr abzuwenden.

Außerdem müsse im einstweiligen Anordnungsverfahren nach § 49 FamFG ein dringendes Bedürfnis für eine sofortige Maßnahme bestehen sowie  eine konkrete und gegenwärtige Gefährdungslage festgestellt werden.

IS-Mitgliedschaft allein rechtfertigt Sorgerechtsentzug nicht

Der Senat stellte klar, dass die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung (IS) allein nach der Rückkehr der Eltern oder Kindesmutter ohne das Hinzutreten weiterer Umstände keinen Entzug der elterlichen Sorge rechtfertigt.

Wenn die Eltern oder die Kindesmutter nach ihrer Rückkehr allerdings inhaftiert werden und sie für die Dauer nach ihrer Inhaftierung eine Unterbringung bei einem in Deutschland lebenden Großelternteil wünschten, sei diesem Wunsch in der Regel zu entsprechen, denn dies stelle im Vergleich zu einer kompletten Entziehung des Sorgerechts einen milderen Eingriff in das Elternrecht dar. Dies sei nur dann anders zu beurteilen, wenn das Wohl der Kinder durch die Unterbringung im Haushalt der Großeltern konkret gefährdet sei.

Auch eine unter Betreuung stehende Großmutter kann zur Erziehung geeignet sein

Nach den Feststellungen des OLG wäre die von der Mutter angestrebte, sofortige Unterbringung der Kinder bei der Großmutter mit einer erheblichen Gefährdung des Kindeswohls verbunden. Die Großmutter selbst steht unter Betreuung. Dies reiche für die Annahme einer Gefährdung des Kindeswohls allerdings alleine nicht aus. Auch seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Großmutter selbst islamistische Anschauungen vertrete und deshalb zur Erziehung der Kinder nicht geeignet sei. Im konkreten Fall trete aber der weitere Umstand hinzu, dass die vier noch sehr kleinen Kinder im Alter zwischen einem und vier Jahren ihre Großmutter bisher persönlich nicht kennen gelernt hatten.

Aufnahme bei Großmutter erfordert umfassende Vorbereitung

Die Aufnahme in den Haushalt der Großmutter, die selbst auf Unterstützung angewiesen ist, setzt nach Auffassung des Gerichts daher umfangreiche Vorbereitungen voraus. Mithilfe des örtlichen Jugendamts müsse gegebenenfalls geklärt werden, ob die Wohnung der Großmutter ausreichende räumliche Möglichkeiten zur Unterbringung von vier Kindern bietet und welche Kinderausstattung dort noch benötigt wird.

Außerdem müsse eine einfühlsame Kontaktanbahnung zwischen den Kindern und der grundsätzlich aufnahmebereiten Großmutter erfolgen. Es müsse geklärt werden, inwieweit die Großmutter bei Versorgung von vier kleinen Kindern öffentliche Hilfen bei der Betreuung und Versorgung der Kinder benötigt und auch erhalten kann.

Kinder durch Kriegserlebnisse traumatisiert

Sorgfältige Vorbereitungsmaßnahmen sind nach Auffassung des OLG im vorliegenden Fall auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil die Kinder bereits traumatische Erlebnisse von Krieg und Flucht hätten verkraften müssen. Dies führe zu einem erhöhten Bedarf an Zuwendung und Aufmerksamkeit und erfordere eine gewisse Erziehungskompetenz.

Bei einem unvorbereiteten Wechsel der Kinder in den Haushalt der Großmutter könnten infolge einer Überforderung sowohl der Kinder als auch der Großmutter Situationen entstehen, die einer gesunden seelischen Entwicklung der Kinder entgegenstehen.

Entziehung des Sorgerechts im Eilverfahren gerechtfertigt

Aufgrund dieser Überlegungen hielt das OLG den Entzug der elterlichen Sorge im einstweiligen Anordnungsverfahren für gerechtfertigt. Auf das Argument des Jugendamtes und des Familiengerichts hinsichtlich der möglicherweise noch bestehenden terroristischen Gesinnung der Kindesmutter kam es nach Auffassung des OLG hierbei allerdings nicht an, da die Mutter infolge ihrer Inhaftierung für die Betreuung und Versorgung ihrer Kinder ohnehin nicht zur Verfügung stand. Darüber hinaus sah der Senat auch Anhaltspunkte für eine bereits fortgeschrittene Läuterung der Mutter von islamistischem Gedankengut.

Unterbringung bei Großmutter ist die auf Dauer bessere Lösung

Schließlich wies das OLG ausdrücklich darauf hin, dass nach den vorliegenden psychiatrischen Gutachten und nach Anhörung der Großmutter keine grundsätzlichen Zweifel an der Erziehungseignung der Großmutter bestünden. Die Unterbringung der Kinder bei ihrer Großmutter erscheint dem Senat auf mittlere Sicht grundsätzlich besser als die Unterbringung in Pflegefamilien geeignet, eine spätere Wiederherstellung der elterlichen Familie zu erreichen, die stets vorrangiges Ziel der zum Schutz der Kinder zu ergreifenden Maßnahmen sein müsse. Die Bestätigung der einstweiligen Anordnung des Familiengerichts sei daher temporär auf die aktuelle Situation begrenzt.

Im Hauptverfahren andere Entscheidung möglich

Mit entsprechender Vorbereitung eines Wechsels der Kinder in den Haushalt der Großmutter kann sich die Situation nach den Hinweisen des Senats schon im Verlauf des Hauptverfahrens anders darstellen. Mithilfe der zuständigen Jugendämter, des Amtsvormunds sowie der Großmutter selbst sei ein Konzept zu erarbeiten, wie die Unterbringung und Betreuung der Kinder im Haushalt der Großmutter ohne Gefährdung des Kindeswohls mittelfristig sichergestellt werden kann.

(OLG Frankfurt, Beschluss v.19.5.2020, 4 UF 82/20; 4 UF 85/20).


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Maßnahmen nach § 1666 Abs. 1 BGB sind zu treffen, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl eines Kindes oder sein Vermögen gefährdet wird. § 1666 BGB ist eine Ausprägung des dem Staat gemäß Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG obliegendem Wächteramtes, das dem Schutz des Kindes bei Gefährdung seines Wohls dient.

Im Hinblick darauf, dass staatliche Maßnahmen insoweit immer auch die Grundrechte der Eltern nach Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG tangieren, stellt insbesondere das Bundesverfassungsgericht hohe Anforderungen für staatliche Eingriffe in die elterliche Personensorge (st. Rspr. vgl. BVerfG FamRZ 2016, 439; FamRZ 2015, 112; FamRZ 12, 1127, FamRZ 14, 907, 1177 jeweils m.w.N.).

  • Eine gerichtliche Maßnahme nach § 1666 Abs. 1 BGB setzt demgemäß zunächst die positive Feststellung voraus, dass bei weiterer Entwicklung der vorliegenden Umstände der Eintritt eines Schadens zum Nachteil des Kindes mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten ist,
  • die bloße Möglichkeit des Schadenseintritts rechtfertigt eine eingreifende Maßnahme nicht.
Schlagworte zum Thema:  Sorgerecht, Rechtsanwalt, Justiz, Juristen, Richter