Selbstjustiz - jeder sein eigener Richter und Vollstrecker?

Ob in der Antike, im Mittelalter oder in der Neuzeit: Immer gab es Menschen, die meinten, das Recht in die eigenen Hände nehmen zu müssen. Und auch heute treibt die Selbstjustiz unerwartete Blüten – bis hin zum Internetpranger im World-Wide-Web.

Auch das Cybermobbing ist eine Form von Selbstjustiz, zumindest dann, wenn das Mobbingopfer auf dies Weise für ein vermeintlich fehlerhaftes Verhalten bestraft und der Internetgemeinde vorgeführt werden soll.

Im März des Jahres 2012 rief ein damals 18 Jahre alter Auszubildender aus Emden im Netz offen zur Lynchjustiz auf. Nach dem Mord an einer Schüleruin war ein junger Mann in Verdacht geraten, die Schülerin getötet zu haben. „Lasst uns das Schwein mit Steinen beschmeissen“ hatte der Auszubildende über Facebook gepostet.

Dem Aufruf folgten 50 Personen, die sich zusammenrotteten und zur Tat schreiten wollten. Der Beschuldigte befand sich aber bereits in Polizeigewahrsam, was ihn vor der Meute rettete. Wie sich später herausstellte, war der Verdacht gegen ihn unbegründet. 

Bei Fehlen staatlicher Autorität wächst der Drang zur Selbstjustiz

Die Geschichte der Selbstjustiz könnte den Eindruck hervorrufen, der Hang, sich selbst zum Richter und Vollstrecker zu machen, stecke im Menschen irgendwie drin.

Selbstjustiz ist die ursprünglichste Form von Justiz, die in der Geschichte immer dann an Boden gewann, wenn staatliche Autorität nicht funktionierte oder nicht akzeptiert wurde.

Nach dem Untergang des Römischen Reiches und seiner rechtlichen Institutionen war die Selbstjustiz in weiten Teilen des alten Kontinents ein probates Mittel, Diebe und Mörder in ihre Schranken zu weisen.

Fehde statt Justiz

Im Mittelalter entstand das Recht der „Fehde“, die dem einzelnen das Recht gab, trotz rudimentär bestehender Gerichtsbarkeit sich gegen begangenes Unrecht selbst zu wehren. Die Fehde war ein von der Obrigkeit toleriertes Mittel zur Ausübung von Rache. In ihrer Blütezeit führte dies dazu, dass ganze Familien sich gegenseitig ausrotteten. In einigen Ländern ist dieses System noch nicht untergegangen.

Die Selbstjustiz konnte nie komplett verdrängt werden 

Mit dem Erstarken der Staatsmacht während Barock und Renaissance übten sich die Landesfürsten zunehmend im Erlass von Gesetzen, die durch eine personell verstärkte Gerichtsbarkeit ausgelegt und angewendet wurden. Die Selbstjustiz wurde nach und nach zurück gedrängt und von den Landesfürsten nicht mehr geduldet. Bis in die Neuzeit hinein ist es aber nicht gelungen, das sich immer wieder Bahn brechende Bedürfnis nach Selbstjustiz völlig zu eliminieren.

Lynchjustiz in den USA hat Tradition

Eine besonders starke Tradition hat die Selbst- oder Lynchjustiz in den USA. Die Herkunft des Begriffes Lynchjustiz ist nicht eindeutig geklärt. Als Namensgeber kommen in Betracht der Bürgermeister der irischen Stadt Galway James Lynch. Dieser hatte im 15 Jahrhundert in einem Mordprozess gegen seinen eigenen Sohn die Rolle des Anklägers, des Richters und des Henkers  übernommen.

Daneben wird als Namensgeber Charles Lynch diskutiert, der im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg als willkürlicher und grausamer Richter bekannt war. Abraham Lincoln war ein erklärter Gegner der Lynchjustiz. Insbesondere die südamerikanischen Staaten bestanden aber auf einem Mitwirkungsrecht des Volkes bei Ausübung der Gerichtsbarkeit.

Gerade im Süden der USA war die Frage der Lynchjustiz eng mit der Rassenfrage und der Sklaverei verbunden. Dies hat der Heidelberger Historiker Professor Dr. Manfred Berg in einer kürzlich vorgelegten Studie nachgewiesen.

Schwarze waren die häufigsten Opfer von Lynchjustiz

Fast drei Viertel der Opfer von den von Berg untersuchten 4716 Lynchmorden zwischen 1882 und 1946 waren Afro-Amerikaner. Die häufig verstümmelten und verbrannten Leichenteile wurden als Trophäen aufbewahrt. Dies war auch die Praxis der Mitglieder des Ku-Klux-Klan, die allein zwischen 1868 und 1871 rund 20.000 Menschen hinrichteten. Die vollständige Abschaffung der Lynchjustiz in den USA erfolgte erst nach dem Zweiten Weltkrieg.

Der Historiker Berg  wies in seiner Studie nach, dass die Abschaffung der Lynchjustiz in engem Zusammenhang mit einer drastischen Ausweitung der staatlichen Todesstrafe stand. In den Jahren 1977 bis 2013 wurden in den USA 1.300 Todesurteile vollstreckt. Die Stärkung der Todesstrafe war möglicherweise die Voraussetzung dafür, dass die Bevölkerung der USA die Abschaffung der Lynchjustiz überhaupt tolerierte. Die Einstellung der dortigen Bevölkerung zum Besitz von Schusswaffen lässt den Schluss zu, dass ein gewisser Hang, sich selbst zum Richter und Henker aufzuspielen, bei einigen nach wie vor vorhanden ist.

Selbstjustiz ist weltweit eher im Vormarsch

Als Fazit bleibt festzuhalten, dass die Lynchjustiz nach wie vor überall auf unserem Planeten ihr Unwesen treibt, in der realen Welt ebenso wie in der digitalen. Wenn Andersgläubige wie Salman Rushdie und andere im „Global Village“ mal eben der Scharia überantwortet und weltweit öffentlich gejagt werden, so ist diese Form von Selbstjustiz weltumspannend und scheinbar unabwendbar im Vordringen.

Wenn in Südbaden in der Nähe von Freiburg im Jahre 2014 ein 17 Jahre alter Jugendlicher die Vergewaltigung seiner 26 Jahre alten Schwester rächt, indem er auf den Täter 23 mal mit dem Messer einsticht und ihn so getötet, so ist dies möglicherweise einfach Ausdruck unendlichen Hasses oder mangelnden Vertrauens in die Fähigkeiten der staatlichen Justiz. Eine gut funktionierende staatliche Gerichtsbarkeit und vor allem das Vertrauen der Bürger in diese dürfte denn auch das einzige probate Mittel sein, die Ausbreitung der Selbstjustiz einzudämmen. Ganz verdrängen lässt sie sich wohl nie.

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