Seenotrettung durch NGOs vor Gericht

Die Seenotrettung von Flüchtlingsbooten in der Ägäis ist - wenig bemerkt von den öffentlichen Medien - auch vor deutschen Gerichten angekommen. Das OVG Hamburg erlaubte dem deutschen NGO-Schiff „Mare Liberum“ die Ausfahrt aus einem griechischen Hafen.

Der „Mare Liberum e.V.“ ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz in Berlin. Der satzungsmäßige Vereinszweck besteht darin, die „Hilfe für Flüchtlinge, die Rettung Schiffbrüchiger aus Lebensgefahr sowie die internationale Gesinnung der Toleranz auf allen Gebieten der Kultur und des Völkerverständigungsgedankens“ zu fördern. Diesem Zweck dient ein im Eigentum des Vereins stehendes Schiff gleichen Namens.

„Mare Liberum“ beobachtet Flüchtlingsroute zwischen der Türkei und Griechenland

Derzeit befindet sich das Schiff in griechischen Gewässern zur Beobachtung der Fluchtroute von Flüchtlingen zwischen der Türkei und Griechenland mit dem Ziel, die öffentliche Aufmerksamkeit auf diese gefährliche Fluchtroute zu lenken und im Fall akuter Gefahr Hilfe herbeizurufen. Zur unmittelbaren Aufnahme von Flüchtlingen ist das Schiff nicht geeignet.

Berufsgenossenschaft erließ Festhalteverfügung

Die Berufsgenossenschaft (BG) „Verkehrswirtschaft-Post-Logistik-Telekommunikation“ erließ im April dieses Jahres eine Festhalteverfügung und untersagte das Auslaufen und die Weiterfahrt des als Sportschiff eingetragenen Schiffes. Die BG ordnete die sofortige Vollziehung des Bescheides an. Begründung: Das Schiff sei nicht als Sportschiff, sondern als Frachtschiff einzustufen und benötige daher ein spezielles Sicherheitszeugnis. Da dies nicht vorgelegt werden könne, dürfe das Schiff nicht auslaufen.

Weisung des Bundesverkehrsministers zu schärferen Kontrollen

Hintergrund der Festhalteverfügung war offensichtlich eine Mitte März ergangene Weisung des Bundesverkehrsministeriums dahingehend, Schiffe, die für Zwecke ziviler Seenotrettung benutzt würden, strengeren Kontrollen zu unterziehen. Insbesondere sei darauf zu achten, dass Schiffe nur dann, wenn sie allein Sport- und Freizeitzwecken und damit der Erholung dienten, von der Verpflichtung zur Vorlage des sonst erforderlichen Sicherheitszeugnisses ausgenommen seien. Die Seenotrettung sei keine solche privilegierte Freizeitbeschäftigung.

Verwaltungsgerichte entschieden nach schiffsrechtlichen Kriterien

Vor diesem Hintergrund entwickelte sich im Hinblick auf den politisch durchaus brisanten Anlass eine etwas kurios erscheinende formaljuristische Prüfung durch das zunächst vom Verein angerufene VG sowie zweitinstanzlich durch das OVG. Neben der Einleitung des Hauptsacheverfahrens hatte der Verein im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes beantragt, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die für sofort vollziehbar erklärte Festhalteverfügung wieder herzustellen. In diesem Rahmen hatten die Gerichte über die rein schiffsrechtliche Frage zu entscheiden, ob die Forderung der BG nach Vorlage eines Sicherheitszeugnisses rechtmäßig war oder nicht.

Die „Mare Liberum“ ist kein Fischereischiff

Die Pflicht zur Vorlage eines Sicherheitszeugnisses hängt u.a. davon ab, um welchen Schiffstypus es sich bei dem betreffenden Schiff handelt. Die Gerichte stuften die „Mare Liberum“ zunächst nicht als Fischereifahrzeug ein. Zwar sei das Boot im Jahre 1917 in den Niederlanden als Krabbenkutter gebaut worden, durch einen später erfolgten Umbau seien die Fischereivorrichtungen aber entfernt und sieben Kojen, ein Badezimmer, ein Salon und eine Küche eingebaut worden. Zur Fischerei sei das Schiff daher nicht mehr geeignet. Nach Auffassung beider Instanzgerichte ist das Schiff daher entweder als Frachtschiff oder als Sportboot einzuordnen. Die exakte Qualifizierung könne offen bleiben, weil beide Alternativen zum gleichen Ergebnis führten.

Nicht gewerbsmäßig betriebene Kleinfrachtschiffe benötigen kein Sicherheitszeugnis

Bei der Einordnung als Frachtschiff besteht gemäß Anlage 1a zu § 6 SchSV grundsätzlich die Pflicht zur Vorlage eines Sicherheitszeugnisses. Gemäß Ziffern 1.2.5 der Anlage 1a Teil 6 Kap. 1 zu § 6 SchSV sind aber Kleinfahrzeuge, die nicht zu gewerbsmäßigen Zwecken verwendet werden, von dieser Pflicht ausgenommen. Beide Gerichte sahen keine Anhaltspunkte dafür, dass die „Mare Liberum“ gewerbsmäßig zum Zwecke der Gewinnerzielung unterwegs sei. Wie aus der Satzung des Vereins hervorgehe, verfolge dieser ausschließlich gemeinnützige Zwecke. Keines der Crew-Mitglieder erhalte für sein Engagement irgendwelche Gegenleistungen. Bei einer Aufnahmekapazität von maximal sieben Personen sei das Schiff auch als Kleinfahrzeug einzuordnen. Für die Alternative der Einordnung als Frachtschiff greife daher die gesetzliche Ausnahme von der Pflicht zur Vorlage eines Sicherheitszeugnisses.

Seenotrettung als Freizeitbetätigung?

Zum gleichen Ergebnis gelangten die Gerichte für den Fall der alternativ in Betracht kommenden Einordnung als Sportschiff. Die Beobachtungsmissionen der Schiffscrew seien als Freizeitbetätigung einzuordnen. Freizeitbetätigungen dienten zwar nach landläufigem Verständnis in erster Linie der Erholung und Entspannung, immer mehr Menschen würden heute ihre Freizeit aber auch der Ausübung eines Ehrenamtes widmen und hierbei aus humanitären, politischen oder sonstigen Gründen gemeinnützige Zwecke verfolgen. Auch die Seenotrettung falle in diese Kategorie und sei im konkreten Fall entgegen der Annahme des Verkehrsministeriums als Freizeitbeschäftigung zu werten.

Erhöhte Sicherheitsanforderungen bei eingeschränkter Dispositionsfreiheit

Bei Einordnung der Qualität der Tätigkeit der Schiffscrew ist nach Auffassung der Gerichte allerdings zu berücksichtigen, dass auch bei der Ausübung von Freizeitaktivitäten unter bestimmten Umständen nach dem Willen des Gesetzgebers erhöhte Sicherheitsanforderungen zu stellen seien. Dies gelte immer dann, wenn die Tätigkeit im konkreten Einzelfall für den Tätigen nicht zur freien Disposition stehe, wie zum Beispiel bei einer ehrenamtlichen Tätigkeit als Sanitäter im Rettungsdienst oder bei der Freiwilligen Feuerwehr. In diesen Fällen seien die Betroffenen verpflichtet, im Einsatzfall ohne Rücksicht auf entstehende Risiken den von ihnen übernommenen Verpflichtungen nachzukommen. Aus dieser Einschränkung der Dispositionsfreiheit aufgrund einer konkret übernommenen Verpflichtung resultiere ein besonderes Sicherheitsbedürfnis der betroffenen Personen. Deshalb stelle das Gesetz zum Schutz dieser Personen zurecht erhöhte Sicherheitsanforderungen, die bei einem Schiff die Verpflichtung zur Vorlage eines Sicherheitszeugnisses umfassten.

Die Crew der „Mare Liberum“ agiert autonom und freiwillig

Nach der Wertung der Gerichte wird die Crew der „Mare Liberum“ aber gerade nicht in der Weise eingesetzt, dass sich die Akteure verbindlich dazu verpflichten würden, an den Beobachtungsmissionen teilzunehmen. Die beteiligten Personen handelten sämtlich auf freiwilliger Basis, und könnten ihre Teilnahme an jeder Beobachtungsmission bis zum Auslaufen des Schiffes problemlos absagen. Die Crew-Mitglieder behielten also bis zum Beginn einer jeden Fahrt in vollem Umfang ihre persönliche Autonomie und verfügten über diverse Verhaltensmöglichkeiten. Eine erhöhte, der Tätigkeit bei der Freiwilligen Feuerwehr vergleichbare Schutzbedürftigkeit bestehe daher nicht.

Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz im Ergebnis erfolgreich

Damit war nach der Bewertung beider Instanzgerichte die von der BG gestellte Forderung zur Vorlage eines Sicherheitszeugnisses nach summarischer Prüfung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit rechtswidrig. Die Gerichte gaben deshalb dem Antrag des Vereins auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Festhalteverfügung statt. Seither darf das Schiff wieder auslaufen.

Anzeichen für Korrektur der Politik der Seenotrettung?

Trotz der eher formal schiffsrechtlichen und nicht politischen Begründung der Gerichte kommentierte der Verein „Mare Liberum e.V.“ die Entscheidung als wichtiges Signal für alle zivilen Rettungsorganisationen an den Grenzen Europas. Der Verein hofft auf humanere Rettungsbedingungen. Möglicherweise ist die Bundesregierung ohnehin gerade dabei, ihre Politik im Hinblick auf die Seenotrettung zu überdenken. Zumindest deutet die von Bundesinnenminister Horst Seehofer überraschend erklärte Bereitschaft zur Aufnahme von 25 % aller vor der Küste Italiens in Seenot geratenden Flüchtlingen in diese Richtung. Allerdings formiert sich bereits Widerstand in den eigenen Reihen. Die Kritiker befürchten durch die Einführung von Aufnahmequoten unerwünschte Pull-Effekte. Die Seenotrettung wird also weiterhin auf der Themenliste der Medien, der Politik und vermutlich auch der Justiz bleiben.


(VG Hamburg, Beschluss v. 13.5.2019, 5 E 2040/19; OVG Hamburg, Beschluss v. 5.9.2019, 3 Bs 124/19)