Privatbriefe von Strafgefangenen genießen besonderen Schutz

Privatbriefe von Strafgefangenen dürfen nur in Ausnahmefällen gestoppt werden, selbst bei Beleidigungen und Schmähkritik. Schutz genießt nicht nur die Meinungsfreiheit, sondern auch das Selbstentfaltungsrecht des Strafgefangenen. Das entschied das Bundesverfassungsgericht, nachdem alle Vorinstanzen anderer Ansicht waren.

In einer Grundsatzentscheidung hat das BVerfG klargestellt, dass private Briefe von Strafgefangenen an Vertrauenspersonen einen besonderen Schutz genießen und nicht mit der Begründung angehalten werden dürfen, die Briefe enthielten Beleidigungen und Schmähkritik. Eine Anhalteverfügung bedürfe stets einer besonders sorgfältigen Argumentation und eine Bewertung der Gesamtumstände.

Häftling beschimpft Vorgesetzte und das Land Bayern

Der ehemals inhaftierte Beschwerdeführer wendete sich wegen der Anhaltung eines Briefes durch die Gefängnisverwaltung während seiner Haftzeit an das BVerfG. Der Brief vom Oktober 2018 war ein seine in einer anderen Justizvollzugsanstalt inhaftierte Großnichte und ehemalige Verlobte gerichtet. In Bezug auf seine diversen Vorgesetzten in der Kfz Werkstatt enthielt der Brief die Äußerung:

...ich kenne das „Arschloch“ noch nicht über das hier jeder lästert…“.

Das Land Bayern bezeichnete er als

…scheiß Nazi- und Bullen-Staat …“.


Sexuelles Interesse an einer ehemaligen Anstaltsbediensteten

Darüber hinaus zeigte der damalige Inhaftierte offensichtlich sexuelles Interesse an einer aus dem Vollzugsdienst ausgeschiedenen Anstaltsbediensteten. In dem Brief schilderte er seinen Versuch, über ein bei der Anstaltspsychologin angemeldetes psychologisches Fachgespräch Informationen über diese ehemalige Anstaltsbedienstete zu erhalten.

Gefängnisverwaltung lässt Brief nicht durch

Drei Tage nach Abfassung des Briefes teilte die Anstaltsleitung dem Beschwerdeführer mit, den Brief wegen Gefährdung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt gemäß Art. 34 Abs. 1 Nr. 1 BayStVollzG angehalten zu haben. Der Brief enthalte herabwürdigende Äußerungen und Schilderungen, die die Sicherheit der Anstalt gefährdeten.

Instanzgerichte bewerten Anhalteverfügung als rechtmäßig

Der Strafgefangene beschritt gegen diese Anhalteverfügung den Weg durch die Instanzen u.a. mit einem Eilantrag bei Gericht, die Justizvollzugsanstalt zu verpflichten, seine Briefe an von ihm namentlich genannte Vertrauenspersonen nicht mehr anzuhalten, wenn diese Äußerungen in der von der Anstaltsleitung beanstandeten Art enthalten.

Mit sämtlichen Eingaben scheiterte der Beschwerdeführer. Seine Rechtsbeschwerde gegen die ablehnende Entscheidung des LG Augsburg über seinen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Gefängnisverwaltung verwarf das BayObLG als offensichtlich unbegründet.

BVerfG entscheidet zugunsten des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer gab nicht auf und fand beim BVerfG mehr Verständnis. Nach der Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts verletzen die angegriffenen Beschlüsse den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Art. 5 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Nach der Entscheidung des Senats hatten die Instanzgerichte die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf Meinungsfreiheit sowie des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sowie des daraus folgenden Vertraulichkeitsschutzes verkannt.

Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit

Nach dem Diktum des BVerfG hatten die Instanzgerichte nicht berücksichtigt, dass das Grundrecht der Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 GG Werturteile ungeachtet eines ehrschmälernden Gehalts schützt. Dies gelte besonders im ureigenen privaten Raum, in dem Art. 2 Abs. 1 GG in besonderer Weise die freie Entfaltung der Persönlichkeit gewährleiste. Dieses Grundrecht gewähre jedem einen besonderen privaten Schutzraum, in dem er unbeobachtet und sich selbst überlassen ist und in dem er mit Personen seines besonderen Vertrauens ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Verhaltenserwartungen und ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen kommunizieren und verkehren kann. Eine solche Rückzugsmöglichkeit für die Persönlichkeitsentfaltung sei wesensmäßig für den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und gelte grundsätzlich auch für Strafgefangene.

Briefüberwachung grundsätzlich zulässig

Die Überwachung des Briefverkehrs ist nach der Entscheidung des Senats im Strafvollzug grundsätzlich verfassungsrechtlich zulässig, um Gefahren für das Vollzugsziel und die Sicherheit und Ordnung der Anstalt abzuwehren. Auch zur Verhinderung der Vertuschung begangener und der Begehung neuer Straftaten sei die Überwachung zulässig.

Die Kenntnisnahme durch Vollzugsbeamte von dem Briefinhalt ändere aber nichts an der Zugehörigkeit der Äußerungen zur grundrechtlich besonders geschützten Privatsphäre. Der vertrauliche Charakter solcher Briefe müsse trotz der staatlichen Überwachung grundsätzlich gewahrt bleiben.

Vertrauensverhältnis zum Briefadressaten ist zu berücksichtigen

Aus diesen Grundsätzen folgert das BVerfG, dass es für die Bewertung einer Anhalteverfügung auch auf das Vertrauensverhältnis des Gefangenen zum Briefadressaten ankommt. Eine vertrauliche Kommunikation sei dem Strafgefangenen dabei nicht nur mit seinen engsten Verwandten, sondern auch mit engen Vertrauenspersonen aus seinem jetzigen oder früheren Lebensumfeld zu gestatten. Im konkreten Fall bejahte der Senat ein solches Vertrauensverhältnis zwischen dem Beschwerdeführer und seiner ehemaligen Verlobten.

Auch Schmähkritik kann von Meinungsfreiheit geschützt sein

In dieser engen Vertrauensbeziehung fällt nach der Bewertung des Senats Schmähkritik nicht von vornherein aus dem Schutzbereich des Art. 5 GG. Dies hätten die Instanzgerichte verkannt. Die Bezeichnung „Arschloch“ für einen der Leiter der Kfz-Werkstatt habe der Beschwerdeführer in seinem Brief eigens in Anführungszeichen gesetzt, also möglicherweise gar nicht als eigene Meinung, sondern als Wiedergabe der Meinung Dritter weitergegeben. Die Äußerung über den Freistaat Bayern als „ scheiß Nazi- und Bullenstaat“ sei ebenfalls differenziert zu betrachten. Das BayObLG habe sich mit der Frage, ob damit eine bestimmte Personengruppe diffamiert werden oder die Begrifflichkeit lediglich allgemein die Unzufriedenheit mit dem Staat zum Ausdruck bringen solle, nicht hinreichend auseinandergesetzt.

Gefährdung von Sicherheit und Ordnung muss genau begründet werden

Schließlich beinhalte die Absicht des damaligen Häftlings, Informationen über eine ehemalige Vollzugsbedienstete zu erhalten, entgegen der Auffassung der Anstaltsleitung und der Instanzgerichte nicht automatisch eine Gefährdung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt.

Die Vollzugsbedienstete sei zu diesem Zeitpunkt der geplanten Nachforschungen bereits aus dem Vollzugsdienst ausgeschieden gewesen. Es sei daher nicht ohne weiteres ersichtlich, weshalb das persönliche Interesse des Beschwerdeführers an dieser Person automatisch zu einer Gefährdung der Sicherheit und Ordnung führen solle.

Rechtsschutzgarantie verletzt

Der Senat rügte auch, dass die Instanzgerichte sich teilweise der Argumentation der Gefängnisverwaltung ohne nähere eigene Überprüfung angeschlossen hatten. Darin sah das Gericht eine Verletzung des Rechts auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG.

Die rechtsstaatlich gebotene Überprüfung der Akte der öffentlichen Gewalt erforderten aufgrund des im Strafvollzugsrecht geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes eine ausreichende Aufklärung der jeweiligen Sachverhalte durch die Gerichte selbst.

Verfassungsbeschwerde erfolgreich

Im Ergebnis hat das BVerfG der Verfassungsbeschwerde stattgegeben, die instanzgerichtlichen Entscheidungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Prüfung und Entscheidung an das ursprünglich zuständige LG zurückverwiesen.

(BVerfG, Beschluss v. 14.4.2021, 2 BvR 194/20).

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