Personalmangel in der Justiz führt

Die  Berliner Justiz ist offenbar an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt. Einige Richter und Staatsanwälte sprechen bereits von einer Kapitulation der Justiz vor dem Verbrechen. Staatsanwälte kämpfen in 2-er Dienstzimmern für das Recht, einige  Strafkammern sind ohne einen einzigen Richter.

Nichts weniger als einen Pakt für den Rechtsstaat (→ Pakt für den Rechtsstaat) haben die Koalitionsparteien der amtierenden Bundesregierung im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Der erhebliche Stellenmangel in der Justiz soll endgültig beseitigt werden mit 2.000 neuen Richterstellen und satten 6.000 neuen Stellen in der Justiz insgesamt.

Geht der Pakt für den Rechtsstaat an Berlin vorbei?

Die Berliner Justiz hat bisher von den im Koalitionsvertrag der Regierung vorgesehenen Wohltaten für den Rechtsstaat wenig abbekommen. Seit dem Brandbrief, mit dem der Präsident des Landgerichts Berlin im Jahre 2017 Klage über die Personalnot der Kammern am Landgericht geführt hat, hat sich nach Einschätzung der meisten Richter und Staatsanwälte bis heute nichts grundlegend geändert.

Untersuchungshäftlinge kommen wegen Überlastung frei

Die chronische Überlastung führt dazu, dass ein nicht unerheblicher Teil der Großen Strafkammern keine Haftsachen mehr annehmen kann. Dies ist Folge des vom BVerfG eng ausgelegten strafprozessualen Beschleunigungsgebots. Nach der Entscheidung der Verfassungsrichter ist

  • die Begründung eines Haftfortdauerbeschlusses für Untersuchungshäftlinge mit dem Argument der Überlastung der für die Entscheidung zuständigen Strafkammer sachfremd und
  • unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht zu rechtfertigen.
  • Habe sich eine Überlastungssituation bereits seit längerer Zeit aufgebaut, falle dies in den Verantwortungsbereich des Staates und könne nicht zulasten eines Untersuchungshäftlings gehen.
  • Eine Ausnahme lässt das BVerfG lediglich für den Fall einer kurzfristigen, nicht vorhersehbaren und  unvermeidbaren Überlastungssituation eines Gerichts zu (BVerfG, Beschluss v. 30.7.2014, 2 BvR 1457/14)

Die Verletzung des Beschleunigungsgebots hat – nicht nur in Berlin – in der Vergangenheit bereits häufiger zu spektakulären Freilassungen von als gefährlich eingestuften Untersuchungshäftlingen geführt. Der Deutsche Richterbund spricht von ca. 50 Fällen im Jahr, in denen Untersuchungshäftlinge – deutschlandweit - frühzeitig entlassen werden müssen.

Prekäre Raumsituation von Richtern und Staatsanwälten

Die Interessenvertretung „Vereinigung Berliner Staatsanwälte e.V.“ beklagt nach Darstellung der Berliner Zeitung vom 11.3.2019 auch eine unerträgliche Raumsituation der Staatsanwälte. Viele der ohnehin oft sehr kleinen Dienstzimmer seien doppelt belegt, was bei der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsarbeit enorm störend sei, beispielsweise wenn einer der Staatsanwälte ein Telefonat führe während der andere gerade mit einer wichtigen Vernehmung befasst sei. Das gleiche gelte für die Dienstzimmer einiger Richter. Ein konzentriertes Arbeiten sei unter diesen Bedingungen nicht möglich. Ein wenig erinnert es schon an die oft doppelt belegten Gefängniszellen.

Verurteilungen in Berlin stark rückläufig

Aus der Beantwortung einer Anfrage des FDP-Abgeordneten Marcel Luthe durch den Berliner Senat Anfang diesen Jahres geht hervor, dass  die Zahl der rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren in Berlin seit Jahren rückläufig ist.

  • Laut Auskunft des Senates sind im Jahr 2017 von den Berliner Gerichten in Strafverfahren 46.663 Personen verurteilt, freigesprochen oder die Verfahren rechtskräftig eingestellt worden.
  • Im Jahr 2016 lag die Zahl noch bei 54.857 rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren,
  • im Jahr 2015 bei 58.231.
  • Die Zahl der Personen, gegen die eine Strafe verhängt wurde, ist ebenfalls zurückgegangen, von 46.680 Verurteilten im Jahr 2015 auf 37.082 Verurteilte im Jahr 2018.

Juristen sehen diese Entwicklung als deutliches Alarmsignal für eine überlastete Justiz.

Phantom-Strafkammern ohne Richter

Der Berliner Justizsenator Dirk Behrend (Grüne) erklärt bereits seit längerem, die Probleme angehen zu wollen. Seit Beginn des Jahres 2018 seien am Landgericht 6 Strafkammern neu geschaffen worden. Die Berliner Tageszeitung „Der Tagesspiegel“ berichtet in seiner Ausgabe vom 8.4.2019 allerdings von einem Brief eines Richters am Berliner Landgericht an die Zeitung. Der Richter beklagt,

  • dass von den angeblich sechs neuen Strafkammern am Landgericht
  • drei Kammern lediglich Phantome seien.
  • Die Kammern existierten nur auf dem Papier,
  • es existierten weder Richter, noch Dienstzimmer noch Geschäftsstellen.
  • Fünf weitere Strafkammern seien nicht vollständig besetzt. Es fehlten die Beisitzer.

Der Berliner Senat erklärt die leeren Kammern damit, dass im jährlich zu erstellen Geschäftsverteilungsplan die neuen Kammern eingeplant werden müssen, auch wenn das Personal dafür noch nicht eingestellt sei. Seit Anfang 2017 seien 20 neue Strafkammern eröffnet worden, 16 davon seien bisher besetzt. Die vier übrigen würden ebenfalls kurzfristig besetzt.

Personaleinstellungen in der Berliner Justiz nehmen zu

Tatsächlich sind im Jahr 2018  in Berlin 18 Staatsanwälte neu eingestellt worden, für das Jahr 2019 sind 20 neue Stellen geplant. Die Interessenvertretung „Vereinigung Berliner Staatsanwälte e.V.“ sieht darin durchaus ein Verdienst des Justizsenators und bewertet die Maßnahme als positive Umkehr von der Praxis in den Jahren davor.

  • Dennoch sei die Zahl der Neueinstellungen immer noch deutlich zu gering.
  • Richter und Staatsanwälte beklagen laut Tagesspiegel auch die Einstellungspraxis in Berlin. Die Auswahlverfahren zögen sich oft länger als ein halbes Jahr hin. In anderen Bundesländern gehe das schneller.
  • Staatsanwälte würden außerdem zu schlecht entlohnt. Sie verdienten in Berlin bis zu 500 Euro pro Monat weniger als beispielsweise ihre Kollegen in Bayern.

Personalmangel auch in anderen Bundesländern

Nach einer Umfrage der Deutschen Presseagentur zum Jahresbeginn 2019 besteht Personalmangel in der Justiz in praktisch allen Bundesländern. Nach der Darstellung des Deutschen Richterbundes haben sich besonders die unterbesetzten Staatsanwaltschaften zum Nadelöhr der Strafverfolgung entwickelt.

Bund und Länder streiten noch über die Finanzierung

Auch wenn erste positive Signale erkennbar sind, so ist die Entwicklung insgesamt doch besorgniserregend. Die Koalition wollte mit dem groß angekündigten Pack für den Rechtsstaat entgegen steuern. Zwischen den Ländern und dem Bundesjustizministerium unter Katarina Barley besteht aber offensichtlich noch Streit über die Finanzierung. Der Bund will sich bisher offenbar nur einmalig an den Kosten für die versprochenen 2.000 Richterstellen beteiligen. Die Länder fordern eine langfristige Beteiligung.

Die Zeit drängt - Justitia geht am Stock

Bund und Länder sollten sich schnell einigen. Eine Pensionierungswelle steht bevor, die das Problem noch verschärfen könnte. Bis zum Jahr 2030 gehen laut Deutschem Richterbund etwa 40 % aller Richter und Staatsanwälte in den Ruhestand. Der Pakt für den Rechtsstaat muss deshalb kurzfristig umgesetzt werden. Das Recht kann nicht warten.

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Hintergrund:

Die Justiz ist chronisch unterfinanziert

Der Grund für die Missstände liegt letztlich in der Unterfinanzierung der Justiz. Der Justizhaushalt ist sowohl bei Bund und Ländern der jeweils kleinste Haushalt.

Obwohl die Deutschen mehrheitlich großes Vertrauen in ihre Justiz heg(t)en, ist die Tatsache der Überlastung der Justizorgane inzwischen im kollektiven Bewusstsein angekommen. Schon nach einer Umfrage des Allensbacher Instituts aus dem Jahr 2014 (!) sind 71 % der Befragten der Auffassung, dass die Justiz überlastet ist. Hier müssen die zuständigen Organe dringend handeln, soll nicht ein dunkler Schatten auf die im allgemeinen Bewusstsein durchaus vorhandene positive Wahrnehmung der Justiz fallen.      

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