OLG Hamm zu Geschwindigkeitsüberschreitung bei Blasenschwäche

Ein für eine Geschwindigkeitsübertretung vorgesehenes Regelfahrverbot kann in eng begrenzten Ausnahmefällen entfallen, wenn der Regelverstoß der schnelleren Erledigung eines unabweisbaren Geschäfts dient. Die Voraussetzungen hierfür sind jedoch juristisch äußerst diffizil.

Wer eine krankheitsbedingt schwache Blase hat, kann bei plötzlichem Harndrang nur in Ausnahmefällen davon ausgehen, dass bei zu schnellem Fahren kein Regelfahrverbot verhängt wird.

Dies entschied kürzlich menschenfreundlich das OLG Hamm. Ein Autofahrer, der plötzlich und unerwartet unabweisbar starken Harndrang verspüre und aus diesem Grunde die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschreite, um möglichst schnell eine Gelegenheit zur Verrichtung seines dringenden Geschäfts zu finden, kann ausnahmsweise auf besondere Milde der Richter hoffen.  

Fahrverbot wegen 2 Regelverstößen in einem Jahr

Eine Ausnahme vom Regelfahrverbot ist nach dem Beschluss des OLG aber nur in besonders gelagerten Fällen gerechtfertigt, in denen, weitere Umstände hinzutreten, die diese Ausnahme rechtfertigen.

Im entschiedenen Fall hatte ein 61-jähriger Fahrzeugführer die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf einer Bundesstraße um 29 km/h überschritten. Die Bußgeldbehörde belegte ihn mit einer Geldbuße in Höhe von 80 Euro und verhängte gemäß § 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV das dort vorgesehene Regelfahrverbot von einem Monat, weil der Kfz-Führer innerhalb eines Jahres zum zweiten Mal mit einer Geschwindigkeitsüberschreitung aufgefallen war.

Unwillkürlich immer schneller

In der Verhandlung vor dem AG hatte der Betroffene zu seiner Verteidigung vorgetragen, dass er wegen einer Prostataoperation an teilweiser Inkontinenz leide. Während der Fahrt habe er plötzlich einen starken, schmerzhaften Harndrang verspürt. Hierdurch habe er sich total darauf fokussiert, möglichst schnell eine Gelegenheit zu finden, rechts ran fahren zu können. Dies sei aufgrund des dichten Verkehrs auf der Bundesstraße schwierig gewesen, so dass er unwillkürlich immer schneller geworden sei, weil es nicht mehr habe aushalten können.

Das Amtsgericht blieb hart

Das AG Paderborn ließ sich von dieser Argumentation nicht beeindrucken. Ohne näher auf die Ausflüchte oder Erklärungen des Fahrers einzugehen, urteilte das AG, dass kein Grund ersichtlich sei, von dem angeordneten Regelfahrverbot Abstand zu nehmen  (AG Paderborn, Urteil v. 2.6.2017, 77 Owi 121/17).

OLG hält plötzlichen Harndrang für rechtserheblich

Dies wollte der Fahrzeugführer nicht akzeptieren und legte Rechtsbeschwerde gegen die Entscheidung des AG ein.

  • Das OLG gab dem Autofahrer nun zumindest insoweit recht, als es seine Argumentation als rechtserheblich einstufte.
  • Das AG hätte nach dem Diktum der OLG-Richter nicht kommentarlos über die Argumente des Betroffenen hinweggehen dürfen,
  • sondern sich mit dessen Vorbringen auseinander setzen müssen müssen.

Aus diesem Grunde leide das amtsgerichtliche Urteil unter einem Erörterungsdefizit. Das OLG hob das erstinstanzliche Urteil daher auf.

Kein Freifahrtschein für Blasengeschädigte

Dennoch gab der Senat dem Betroffenen nicht unmittelbar recht.

  • Das OLG stellte lediglich klar, dass ein plötzlicher unabweisbar Harndrang aufgrund besonderer körperlicher Dispositionen des Betroffenen eine hierdurch verursachte Geschwindigkeitsüberschreitung als weniger gravierend erscheinen lassen könne.
  • Dies könne dazu führen, dass in besonders gelagerten Einzelfällen von einem Regelfahrverbot abzusehen sei.
  • Voraussetzung hierfür aber sei aber das Hinzutreten weiterer Umstände, die eine Abweichung vom Regelfall rechtfertigen würden.

Die Ausnahmeoption dürfe nicht dazu führen, einem bestimmten Personenkreis einen Freibrief für Geschwindigkeitsüberschreitungen zu erteilen.

Betroffene müssen umsichtig planen

Grundsätzlich sei bei entsprechender körperlicher Disposition von betroffenen Fahrzeugführern zu verlangen, dass sie die Planung einer Fahrt auf ihre körperliche Disposition einstellen und entsprechende Vorkehrungen treffen, gegebenenfalls auf plötzlich auftretenden Harn- oder Stuhldrang rechtzeitig reagieren zu können. Bei einer solchen Planung könnten aber gewisse Unwägbarkeiten, etwa starkes Verkehrsaufkommen,  Staubildung, Umleitungen et cetera nicht immer vollständig berücksichtigt werden. Insoweit müsse der Richter die näheren, gesamten Umstände der Fahrt aufklären und bei der Abwägung der Rechtsfolgenbemessung in seine Beurteilung einbeziehen.

Das AG muss erneut entscheiden

Wegen des verbleibenden Aufklärungsbedarfs verwies das OLG den Fall zur weiteren Tatsachenaufklärung und erneuten Beurteilung an das AG zurück. Das AG habe zu klären, inwieweit der Betroffene bei Fahrtantritt die Umstände der Fahrt, das vorhersehbare Verkehrsaufkommen und die Möglichkeit plötzlich auftretenden Harndrangs berücksichtigt habe.

(OLG Hamm, Beschluss v. 10. 10.2017, 4  RBs 326/17).

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Hintergrund:

Auch der erzielbare Zeitgewinn kann eine Rolle spielen

Insgesamt beurteilen die Gerichte Regelverstöße im Straßenverkehr bei plötzlichem Harn- oder Stuhldrang unterschiedlich.

  • Das AG Bad Segeberg hat einer Schwangeren bei starkem Harndrang ausdrücklich keine mildernden Umstände im Hinblick auf eine erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung ( 123 km/h statt zulässiger 60 km/h) zugesprochen (AG Bad Segeberg, Urteil v. 4.5.2012, 5 Owi 552 Js 43380/11).
  • Dennoch sah der Richter von dem ursprünglich vorgesehenen zweimonatigen Fahrverbot ab, allerdings bei gleichzeitiger Erhöhung des Bußgeldbetrages.
  • Das OLG Düsseldorf lehnte in einem ähnlichen Fall eine Ermäßigung der Sanktion mit der Begründung ab, dass der Betroffene durch eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit keinen nennenswerten Zeitgewinn für die Erledigung seines Geschäfts hätte erzielen können und eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit daher sinnlos gewesen sei (6.12.2007, IV – 5 Ss (Owi) 218/07).