Neue Vielklägergebühr in der Sozialgerichtsbarkeit?

Sozialgerichte werden durch einzelne Dauerkläger regelrecht blockiert. Das Land Hessen will jetzt Vielkläger mit einer Sondergebühr vor querulatorische Klagen abschrecken. Maximal 9 Sozialrechtsverfahren innerhalb von 10 Jahren sollen künftig kostenfrei sein. Ein Gesetzentwurf auf Kosten der Schwächsten oder sinnvoll für den Rechtsschutz?

Das Land Hessen hat eine Gesetzesinitiative zur Einführung einer besonderen Verfahrensgebühr für Vielkläger in sozialgerichtlichen Verfahren gestartet. Ziel des Entwurfs ist es, die Sozialgerichtsbarkeit zu entlasten, deren Prozesseingänge seit dem Jahr 2018 stark angestiegen sind.

Von Prozesshanseln und Vielklägern

Früher nannte man Personen, die wegen jeder Kleinigkeit die Gerichte anriefen, “Prozesshanseln“, heute heißen sie etwas neutraler „Vielkläger“. Vielkläger sind besonders für einige Sozialgerichte ein großes Problem. Sie sind in der Lage, durch gehäufte Eingaben ganze Kammern über Monate, manchmal Jahre zu blockieren. So hatte das LSG Baden-Württemberg sich im Jahr 2014 mit 138 Klageanträgen eines Strafgefangenen auf Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer zu befassen. Insgesamt hatte der Kläger dieses Verfahrens in wenigen Jahren ca. 2.000 Klagen bei den Sozialgerichten in Baden-Württemberg eingereicht.

Ein anderer Kläger hatte allein im Jahr 2019 250 zweitinstanzliche Verfahren allein vor dem LSG Darmstadt angestrengt. In weiten Teilen handelte es sich hierbei um Klagen und auch Rechtsmittel, die die Gerichte als so haltlos und unsinnig bewertet haben, dass einige Gerichte diese Klagen wegen Rechtsmissbrauchs schlicht aus dem Prozessregister haben austragen lassen.

Jeder Kläger hat das Recht auf sachliche und rechtliche Prüfung

Diese Weise der Prozesserledigung durch Austragung aus dem Prozessregister hat das BSG scharf gerügt und mit Blick auf die Rechtsschutzgarantie des GG entschieden, dass Gerichte grundsätzlich jede eingehende Klage sorgfältig und gewissenhaft zu bearbeiten haben, mag das Klagebegehren auf den ersten Blick noch so unsinnig erscheinen (BSG, Urteil v. 12.2.2015, B 10 ÜG 8/14). 

Sozialgerichte sind keine Spielwiese für Hobbyjuristen

Das Land Hessen möchte der um sich greifenden rechtsmissbräuchlichen Beschäftigung der Sozialgerichtsbarkeit endgültig ein Ende bereiten und querulatorische Kläger und Hobbyjuristen davon abhalten, Sozialgerichte als Spielwiese ihrer Freizeitgestaltung zu missbrauchen.

Die hessische Regierung rechnet vor, dass im Zeitraum 1.1.2010 bis 31.12.2019 beim Hessischen LSG insgesamt 29.718 Verfahren eingegangen seien. 5.843 dieser Verfahren seien von insgesamt 140 Klägerinnen und Klägern eingeleitet worden, die in diesem Zeitraum jeweils zehn oder mehr Verfahren angestrengt hätten. Dies umfasse knapp 20 % aller in diesem Zeitraum geführten Verfahren. Der überwiegende Teil der von diesen Vielklägern eingeleiteten Klageverfahren sei erfolglos gewesen. Diese Häufung sinnloser Klagen bei den Sozialgerichten sei unter anderem darauf zurückzuführen, dass diese Klagen zum überwiegenden Teil gemäß § 183 SGG für die Kläger völlig kostenfrei sind und im Endeffekt von der Allgemeinheit bezahlt würden.

Preisschild für Querulanten

Der jetzige Gesetzentwurf soll dazu beitragen, die Ressourcen der Justiz zu schonen und nicht mit sinnlosen Prozessen zu belasten. Ein solches Gesetz ist nach Auffassung der hessischen Landesregierung geradezu verfassungsrechtlich geboten, um den Rechtsschutz von Klägerinnen und Klägern mit berechtigten Anliegen in einem zeitlich zumutbaren Rahmen zu gewährleisten. Unsolidarisches Verhalten einiger weniger Querulanten soll daher zukünftig zumindest nicht mehr zum Nulltarif zu haben sein.

Was im einzelnen neu geregelt werden soll

Der Gesetzentwurf des Landes Hessen sieht eine Reform des § 183 SGG vor. Gemäß § 183 SGG ist das Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit für das Gros der Kläger*innen kostenfrei. Gemäß § 183 Satz 5 SGG gilt die Kostenfreiheit nicht für Verfahren wegen überlanger Gerichtsverfahren gemäß § 202 Satz 2 SGG. Der hessische Gesetzentwurf sieht nun eine Erweiterung dieser Ausnahme von der Kostenfreiheit vor:

  • Durch einen neu einzufügenden § 183 Satz 6 SGG-E soll der Dispens von der Kostenfreiheit ausgedehnt werden auf Kläger*innen „ab der zehnten Streitsache“, die innerhalb der letzten zehn Jahre von dieser Person anhängig gemacht wurden.
  • Gemäß einem neuen § 183 Abs. 2 SGG-E wird von diesen Personen eine Verfahrensgebühr in Höhe von 30 Euro erhoben.
  • Erst nach Zahlung dieser Verfahrensgebühr soll das gerichtliche Verfahren weiter betrieben werden können.
  • Die Feststellung der Gebührenschuld soll durch den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle erfolgen.

Fiktion der Klagerücknahme bei Nichtzahlung

Wenn die besondere Verfahrensgebühr nicht innerhalb von drei Monaten nach ihrer endgültigen Feststellung bezahlt ist, soll per gesetzlicher Fiktion der Antrag, die Klage oder das Rechtsmittel als zurückgenommen gelten. Durch eine Neufassung des § 73 a Abs. 3 SGG soll darüber hinaus sichergestellt werden, dass für die besondere Verfahrensgebühr keine Prozesskostenhilfe gewährt werden kann.

Schutzmechanismus für Kläger*innen bei erkennbarem Rechtsschutzbedürfnis

Auf Antrag kann das Gericht die Gebührenschuld aufheben, wenn dies zur Gewährung von Rechtsschutz geboten ist. Mehrere Instanzenzüge in der gleichen Sache gelten nur eine Rechtsstreitigkeit.

Gesetzentwurf ist verfassungsrechtlich nicht unproblematisch

Der Gesetzentwurf des Landes Hessen ist verfassungsrechtlich umstritten. Die Gebührenfreiheit in der Sozialgerichtsbarkeit hat den Sinn, den finanziell schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft einen besonders niedrigschwelligen Rechtsschutz zu ermöglichen. Dieses Spannungsverhältnis zwischen niedrigschwelligem Zugang zu den Gerichten einerseits und dem Schutz der Sozialgerichtsbarkeit vor rechtsmissbräuchlicher Inanspruchnahme andererseits wurde bei einem Online-Symposium deutlich, zu dem die hessische Justizministerin Eva Kühne-Hörmann am 18.11.2020 unter Teilnahme des Präsidenten des BSG, Prof. Dr. Rainer Schlegel, geladen hatte.

Guter Ansatz, aber mit Nachbesserungsbedarf

Der Präsident des BSG bestätigte die Berechtigung des in dem Gesetzentwurf zum Ausdruck kommenden Anliegens der Entlastung der Justiz von einer großen Zahl unsinniger Verfahren. Gleichzeitig wies er darauf hin, dass die Bewertung der Sinnhaftigkeit eines Verfahrens grundsätzlich eine inhaltliche Beschäftigung mit dem Klagebegehren voraussetze. Er bemängelte,

  • dass der hessische Gesetzentwurf die möglichen Erfolgsaussichten einer Klage bei Einführung einer Gebühr nicht hinreichend berücksichtige
  • und warf die Frage auf, was gelten soll, wenn neun Verfahren eines Vielklägers überwiegend erfolgreich waren?

Darüber hinaus wies der BSG-Präsident darauf hin, dass nicht wenige Klagen im Rahmen der Sozialgerichtsbarkeit von Hartz IV-Beziehern*innen und Empfänger*innen von Grundsicherung eingereicht würden. Grundsicherungsbescheide würden häufig nur für kurze Zeiträume erteilt, da könnten in Einzelfällen schnell mal zehn Verfahren zusammenkommen, ohne dass der Kläger gleich ein Querulant sein müsse.

Zeitnahe Beratung im Rechtsausschuss des Bundesrats

Der Gesetzentwurf des Landes Hessen wird am 2.12.2020 im Rechtsausschuss des Bundesrates beraten werden.

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