Londoner Luftverschmutzung hat Mitschuld am Tod eines Mädchens

Spektakuläres und spektakulär trauriges Urteil eines Londoner Gerichts: Der Tod eines neunjährigen Mädchens, das 2013 an einem Asthmaanfall verstorben war, ist u.a. auf die Überschreitung der EU-Luftverschmutzungsgrenzwerte in London zurückzuführen. Die Behörden haben durch Nichtstun geglänzt.

Ein Urteil, das - wenn es Schule macht – wegweisend für ganz Europa sein könnte. Nicht nur im tragischen Fall eines Todes, sondern auch bei schweren Erkrankungen, insbesondere der Atemwege und der Atmungsorgane, könnte diese Entscheidung des Londoner Gerichts Türöffner für Schadensersatzforderungen und Entschädigungsansprüche Betroffener in ganz Europa sein.

Mutter des verstorbenen Kindes kämpft verbissen vor Gericht

Die Mutter der zum Zeitpunkt ihres Todes neun Jahre alten Ella Adoo-Kissi-Debrah hat über mehrere Jahre um die Anerkennung der Luftverschmutzung in London als Mitursache für den qualvollen Asthma-Tod ihrer Tochter im Jahr 2013 vor Gericht gekämpft. DerSouthwark Coroner`s Court in London ließ sich schließlich von den Argumenten der Mutter nach zweiwöchigen Anhörungen von Sachverständigen überzeugen.

Stark überhöhte Luftverschmutzung in der unmittelbaren Wohnumgebung

Die Klägerin hatte mit ihrer Tochter und der übrigen Familie über Jahre in unmittelbarer Nähe der stark befahrenen „South Circular Road“ in London gelebt. In den drei Jahren vor dem Tod des Mädchens wurden an einer dort befindlichen Messstation praktisch täglich Verschmutzungswerte gemessen, die weit über den in der EU zulässigen Grenzwerten für  Stickstoffdioxid sowie Feinstaub lagen.

In der Zeit seit ihrem sechsten Lebensjahr musste das Mädchen 27 Mal mit schweren Asthma-Anfällen in einem Londoner Krankenhaus stationär behandelt werden. Schon als Sechsjährige wurde das Kind über drei Tage in ein künstliches Koma versetzt, um den kritischen Zustand ihrer Atemwege zu stabilisieren.

Sachverständige bestätigen Luftverschmutzung als Mit-Todesursache

Einer der Sachverständigen stellte die auffällige Übereinstimmung in den Zeitabläufen heraus.

  • Immer wenn die Messungen Höchstwerte der Stickstoffdioxidwerte und der Feinstaubpartikel in der Luft anzeigten, habe das Kind in stationäre Behandlung gemusst.
  • Die Luftqualität sei in der unmittelbaren Umgebung des Mädchens so schlecht gewesen, dass für das durch die Asthmaerkrankung vorgeschädigten Mädchen das Leben in dieser Umgebung ständig ein „Leben auf Messers Schneide“ gewesen sei.
  • Die im unmittelbaren Wohnumfeld des Mädchens gemessenen Verschmutzungsspitzenwerte seien für einen solchen Menschen grundsätzlich lebensbedrohlich.

Gericht rügt multiples Behördenversagen

Der Gerichtsmediziner Philip Barlow bestätigte vor dem Londoner Gericht, die gesamte Familie der Mutter sei über Jahre einer exzessiven Luftverschmutzung ausgesetzt gewesen. Die ständige erhebliche Überschreitung der EU-Grenzwerte habe einen nicht unerheblichen Beitrag zu den immer wiederkehrenden schweren Asthmaanfällen des verstorbenen Mädchens geleistet und ihren Tod zumindest mitverursacht. Über Jahre hätten die Behörden gegen die unerträglichen Luftwerte nichts getan.

Darüber hinaus rügte das Gericht die mangelhafte Informationspolitik der Behörden. Weder die Familie des toten Mädchens noch die übrige Bevölkerung besonders belasteter Stadtteile in London würden nicht annähernd angemessen über die mit der Luftverschmutzung einhergehenden Gefahren informiert.

Londoner Bürgermeister gelobt Besserung

Obwohl das Gericht in seinem Urteil ausdrücklich das schwere behördliche Versagen der Londoner Stadtverwaltung angeprangert hat, hat der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan die Entscheidung begrüßt und erklärt, dass damit ein Wendepunkt in der Verkehrspolitik der Stadt eingeleitet werde. Eine solche Wende ist auch dringend erforderlich. Nach den Feststellungen des Gerichts hat der zuständige Londoner Stadtteilrat trotz extrem schlechter Luftwerte insgesamt sieben Jahre benötigt, um einen Aktionsplan zur Verbesserung der Luftqualität zu entwickeln.

400.000 EU-Tote jährlich infolge Luftverunreinigung

Zurzeit erreichen in Europa die meisten Länder nicht die von ihnen selbst gesteckten Luftreinhalteziele. Auch die Reduzierung der Schadstoffanteile der Luft infolge der Corona-Pandemie (weniger Luftverkehr, geringerer Verschmutzungsausstoß der Industrie) hat nur zu einer marginalen und wahrscheinlich nur temporären Reduzierung der Verschmutzungswerte geführt. Nach einem EU-Bericht versterben allein innerhalb der EU jährlich ca. 400.000 Menschen vorzeitig infolge erhöhter Luftverschmutzung.

Urteil mit Vorbildfunktion?

Ob das Londoner Urteil das Zeug hat, zum Präzedenzfall für andere Gerichte in Großbritannien oder möglicherweise auch darüber hinaus in Europa zu werden, muss abgewartet werden. Bisher ist die Entscheidung lediglich ein Einzelfall. Die medizinische Begründung und kausale Rückführung eines konkreten Todesfalls auf die Mitursache Luftverschmutzung erscheint jedenfalls nicht aus der Luft gegriffen, sondern dank sorgfältiger Argumentation sachlich und rechtlich nachvollziehbar.

Auch Frankreich wegen Luftverschmutzung verurteilt

Darüber hinaus korrespondiert das Londoner Urteil mit der Rechtsprechung des EuGH, der Frankreich im vergangenen Jahr wegen erheblicher Überschreitung der Stickstoffdioxidgrenzwerte in französischen Städten verurteilt hat. Die Klage war von der EU-Kommission angestrengt worden. Die EuGH-Richter bestätigten die Auffassung der Kommission, dass Frankreich zur Einhaltung der Stickstoffdioxidwerte in Paris, Lyon und Marseille sowie in neun weiteren Städten deutlich mehr als bisher tun müsse (EuGH, Urteil v. 24.10.2019, C-636/18).

Luftreinhalteklage auch gegen Deutschland beim EuGH anhängig

Ähnliche von der Kommission eingeleitete Klagen laufen im übrigen auch gegen Deutschland und Großbritannien. Bulgarien und Polen wurden bereits wegen Überschreitung der Feinstaubwerte vom EuGH verurteilt. Die Urteile des EuGH sind Voraussetzung für jeweils weitere Verfahren gegen die betroffenen Staaten, in denen diese dann zu erheblichen Bußgeldzahlungen in mehrstelliger Millionenhöhe verurteilt werden können. Die Londoner Entscheidung ist allerdings bisher die einzige, in der der Tod einer konkreten Person kausal auf die Überschreitung der zulässigen Luftverschmutzungswerte zurückgeführt wurde und könnte damit wegweisend werden.

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