
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat eine Verfassungsbeschwerde wegen Nichteinführung eines allgemeinen Tempolimits auf deutschen Bundesautobahnen in Ermangelung einer ausreichenden Begründung nicht zur Entscheidung angenommen.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde hatten Umweltschützer eine Verletzung des in Art. 20a GG statuierten Staatsziels des Umwelt- und Klimaschutzes durch das gesetzgeberische Unterlassen der Einführung eines allgemeinen Tempolimits auf Bundesautobahnen gerügt. Den Richtern des BVerfG erschien die Begründung der beiden Beschwerdeführer als nicht hinreichend plausibel. Sie nahmen die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an.
Klimaentscheidung des BVerfG stützt die Verfassungsbeschwerde nicht
Ein Verweis der Beschwerdeführer auf die viel beachtete Klimaentscheidung des BVerfG vom März 2021 reichte den Verfassungsrichtern zur Begründung der Verfassungsbeschwerde nicht aus. In seinem damaligen Klimaurteil hatte das höchste deutsche Gericht den Verfassungsbeschwerden von Klimaschützern gegen das Klimaschutzgesetz des Bundes (KSG) teilweise stattgegeben, weil das KSG keinen klar definierten Weg zur Erreichung der rechtsverbindlichen Klimaziele bis zum Jahr 2045/ 2050 vorgegeben hatte. Die Verfassungsrichter sahen in den mangelhaften Klimaschutzmaßnahmen des Gesetzgebers eine reale Gefahr einer Beschränkung der Freiheitsrechte künftiger Generationen (BVerfG, Beschluss v. 24.3.2021, 1 BvR 2656/18; 1 BvR 96/20; 1 BvR 78/20 u.a.).
Keine hinreichende Darlegung der Bedeutung eines Tempolimits
Die an die BVerfG-Entscheidung angelehnte Argumentation der Beschwerdeführer überzeugte die Verfassungsrichter im Hinblick auf die nun angestrebte allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Bundesautobahnen nicht. Die Verfassungsrichter erkennen zwar weiterhin grundsätzlich die Befugnis zur Verfassungsbeschwerde wegen möglicher zukünftiger Freiheitsbeschränkungen an, jedoch hatten die Beschwerdeführer nach Auffassung des BVerfG solche künftigen Freiheitsbeschränkungen als Folgewirkung des Unterlassens der gesetzlichen Einführung eines allgemeinen Tempolimits nicht hinreichend plausibel begründet.
Umweltschützer rügen mangelnde Effizienz bisheriger Maßnahmen
Die Beschwerdeführer hatten in der Begründung ihrer Verfassungsbeschwerde die Auffassung vertreten, es sei äußerst unwahrscheinlich, dass mit den bislang zur Senkung des CO₂-Ausstoßes im Verkehrsbereich ergriffenen Maßnahmen die im Klimaschutzgesetz für den Verkehrssektor bis 2030 vorgesehene maximale Emissionsmenge einzuhalten sei. Ein allgemeines Tempolimit auf Bundesautobahnen könne zur Erreichung dieser Emissionsziele beitragen. Laut Berechnungen des Umweltbundesamtes würde die CO₂-Emissionen von Kraftfahrzeugen bei einem generellen Tempolimit von 120 km/h auf Autobahnen um 2,7 % gesenkt, bei einem Tempolimit von 100 km/h um 5,7 %.
Eingriffsähnliche Vorwirkung nicht hinreichend dargelegt
Die Begründung der Beschwerdeführer reicht nach Auffassung des BVerfG zur Darlegung einer eingriffsähnlichen Vorwirkung der Nichteinführung eines Tempolimits auf künftige Freiheitsgrundrechte nicht aus. Hierzu hätten die Beschwerdeführer darlegen müssen, dass und warum ohne Einführung einer Geschwindigkeitsbeschränkung bis zum Ende des Jahrzehnts erhebliche Freiheitsbeschränkungen im Verkehrssektor zu befürchten seien. An einer solchen Darlegung fehle es, ebenso wie an einer nachvollziehbaren Berechnung dazu, dass die dem Verkehrssektor zugewiesene Emissionsmenge bei Nichteinführung eines Tempolimits zu schnell aufgezehrt würde.
Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen
Wegen dieser Begründungsmängel lehnte das BVerfG die Annahme der Verfassungsbeschwerde ab.
BVerfG, Beschluss v. 15.12.2022, 1 BvR 2146/22
Hintergrund
Die aktuelle Entscheidung des BVerfG entspricht einem Beschluss des höchsten deutschen Gerichts vom Januar 2022. Dort hatte das BVerfG die Verfassungsbeschwerde von Klimaschützern mit dem Ziel, einzelne Bundesländer zu verpflichten, ihre Klimaschutzgesetze zur Reduktion von Treibhausgasen nachzuschärfen, mit ähnlicher Begründung nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG, Beschluss v. 18.1.2022, 1 BvR 1565/21; 1 BvR 2058/21; 1 BvR 2574/21; 1 BvR 1936/21 u.a.)
Gesetzgeber muss Auswirkungen auf künftige Generationen berücksichtigen
In seinem damaligen Ablehnungsbeschluss bekräftigte das BVerfG seinen Standpunkt, dass das Klimaschutzgebot des Art. 20a GG sowie die verfassungsrechtlich geschützten Freiheits- und Eigentumsrechte gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 14 Abs. 1 GG den Staat grundsätzlich verpflichten, die Treibhausgasminderungslast nicht einseitig in spätere Zeiträume zu verlagern. Dies gelte vor allem dann, wenn bereits absehbar sei, dass die geltenden Gesetze zu unverhältnismäßigen Belastungen auch künftiger Generationen durch dann erforderliche Klimaschutzmaßnahmen führen werden.
Keine eingriffsähnliche Vorwirkung des Landesrechts
Auch in seiner damaligen Entscheidung vermisste das BVerfG die erforderliche Darlegung einer eingriffsähnlichen Vorwirkung der unterlassenen gesetzgeberischen Maßnahmen für die Freiheitsrechte künftiger Generationen. Schließlich existiere zur Erfüllung der staatlichen Schutzpflichten vor den Gefahren des Klimawandels ein bundesweit geltendes Klimaschutzgesetz, das nach der im März 2021 ergangenen Entscheidung des BVerfG vom Gesetzgeber entsprechend den Maßgaben des BVerfG nachgeschärft worden sei.
Restriktivere Klima-Rechtsprechung des EuGH
Der EuGH ist gegenüber Umweltschutz- und Klimaklagen grundsätzlich zurückhaltender als das BVerfG. Der EuGH bewertet die europäischen Klimaziele nicht als Individualrechte, aus denen einzelne EU-Bürger eine Klagebefugnis ableiten können (EuGH, Urteil v. 25.3.2021, C-565/19). Anders positioniert sich der EGMR, der in einer viel beachteten Zwischenentscheidung eine Klage von 6 portugiesischen Kindern gegen 33 Staaten wegen der Folgen klimaschädlicher Emissionen (Waldbrände in Portugal) zur Entscheidung angenommen hatte.