Kanzlerin Angela Merkel hat Neutralitätsgebot verletzt

Mit einer bei einer Pressekonferenz in Südafrika im Februar 2020 getätigten Äußerung zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen hat die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel gegenüber der AfD das Recht auf Chancengleichheit der Parteien missachtet, so das Bundesverfassungsgericht.

Gegenstand des Verfahrens vor dem BVerfG waren die Vorgänge um die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen am 6. Februar 2020 mit Stimmen der AfD.

Wahl eines Ministerpräsidenten mit den Stimmen von AfD-Abgeordneten

Zur Erinnerung: Im Februar 2020 fand im Thüringer Landtag die Wahl zum Ministerpräsidenten des Freistaates Thüringen statt. Nachdem in zwei Wahlgängen die notwendige absolute Stimmenmehrheit für keinen der Kandidaten erreicht wurde, nominierte die FDP mit Thomas Kemmerich einen weiteren eigenen Kandidaten für den 3. Wahlgang, der darauf mit den Stimmen der AfD-Abgeordneten zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Dies führte in der Bundesrepublik zu heftigen politischen Kontroversen.

Kanzlerin nannte Wahl mithilfe der AfD „unverzeihlich“

Zur Zeit der Thüringer Wahl befand sich die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einem Staatsbesuch in der Republik Südafrika. Anlässlich einer dort gegebenen Pressekonferenz erklärte sie in einer von ihr ausdrücklich als Vorbemerkung zu einer Rede bezeichneten Kommentierung, die Wahl eines Ministerpräsidenten mit Stimmen der AfD sei ein unverzeihlicher Vorgang, weshalb „das Ergebnis rückgängig gemacht“ werden müsse. Dies sei ein „schlechter Tag für die Demokratie“ in Deutschland gewesen. Die Kommentierung wurde später auf der Internetseite der Bundeskanzlerin und auch auf der Internetseite der Bundesregierung veröffentlicht.

AfD rügt Verletzung grundlegender Parteienrechte

Der Bundesverband der AfD rügte daraufhin beim BVerfG im Wege eines Organstreitverfahrens die Verletzung der Pflicht der Bundeskanzlerin zur Neutralität im politischen Meinungskampf sowie die Verletzung des Rechtes der AfD auf Chancengleichheit der politischen Parteien.

Organstreitverfahren erfolgreich

Die Verletzungsrügen der AfD hatten in sämtlichen Punkten Erfolg. Das BVerfG betonte, es sei Grundvoraussetzung jeder Demokratie, dass die politischen Parteien - soweit irgend möglich - gleichberechtigt am politischen Wettbewerb teilnehmen können. Dieser Grundsatz habe Auswirkungen auf die Äußerungsbefugnisse einzelner Mitglieder der Bundesregierung und damit auch die der Kanzlerin, auch wenn die Äußerungsbefugnisse der Kanzlerin grundsätzlich umfassender seien als die von Fachministern. Die gleichberechtigte Teilhabe der Parteien erfordere es, sicherzustellen, dass Inhaber von Regierungsämtern im allgemeinen politischen Meinungskampf zur Verbreitung ihrer politischen Position keinen Rückgriff auf mit dem Regierungsamt verbundene besondere Mittel und Möglichkeiten nehmen, die den Mitbewerbern im Meinungskampf verschlossen sind.

Kanzlerin hat Neutralitätspflicht verletzt

Gegen diese Grundsätze hat die Kanzlerin nach Auffassung des Senats bei ihrer Äußerung in Südafrika deshalb verstoßen, weil sie ihre Stellungnahme in amtlicher Funktion, d.h. in ihrer Eigenschaft als Bundeskanzlerin im Rahmen eines Staatsbesuches in Südafrika geäußert haben. Auch eine Bundeskanzlerin dürfe außerhalb ihrer amtlichen Funktion am politischen Meinungskampf teilnehmen, jedoch müsse sie in diesen Fällen deutlich machen, dass sie sich nicht kraft Amtes, sondern als Parteipolitikerin äußere. Eine solche Distanzierung von ihrem Amt habe die Äußerung der Kanzlerin in Südafrika nicht erkennen lassen.

AfD als minderwertige Partei eingestuft

Inhaltlich habe die Kanzlerin mit ihrer Äußerung eine klar negative Qualifizierung der AfD als Partei vorgenommen. Sie habe die AfD als im politischen Meinungsspektrum demokratieschädlich eingestuft und der Partei ihre Koalitions- und Kooperationsfähigkeit im demokratischen Gemeinwesen abgesprochen. Dieses negative Werturteil durch die Kanzlerin sei geeignet, die AfD in ihrem Recht auf gleichberechtigte Teilhabe am Prozess der politischen Willensbildung, die ihr gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG garantiert wird, zu beeinträchtigen und sei daher verfassungsrechtlich nicht zulässig gewesen.

Negativkommentar nicht durch höherrangige Rechtsgüter gerechtfertigt

Die Negativkommentierung war nach dem Diktum des BVerfG auch nicht durch höherrangige Rechtsgüter gerechtfertigt. Das von Merkel vorgebrachte Argument, sie habe das Ansehen und das Vertrauen der Bundesrepublik Deutschland in der Staatengemeinschaft durch eine klare Stellungnahme zur Wahl eines Ministerpräsidenten durch eine populistische Rechtsaußenpartei schützen wollen, ließen die Verfassungsrichter nicht gelten. Als damals stärkste Regierungspartei habe die CDU sich in dieser Frage bereits vor der Äußerung der Kanzlerin in Südafrika klar positioniert. Mit dieser politisch eindeutigen Positionierung sei die Öffentlichkeit hinreichend über den Standpunkt der CDU als Partei informiert gewesen. Einer zusätzlichen Kommentierung durch die Kanzlerin habe es nicht bedurft.

Veröffentlichung auf amtlichen Internetseiten war eigenständige Rechtsverletzung

Erfolg hatte die Verfassungsbeschwerde auch hinsichtlich der Veröffentlichungen der Äußerungen der Kanzlerin auf den offiziellen Internetseiten der Kanzlerin und der Bundesregierung. Diese Veröffentlichung bewertete der Senat als eigenständige Verletzung der Rechte der AfD, da die Kanzlerin hier nochmals in spezifischer Weise ihre regierungsamtliche Autorität in Anspruch genommen und auf amtsbezogene Ressourcen zurückgegriffen habe, die der AfD als Partei nicht zugänglich gewesen seien.

Im Ergebnis war das von der AfD eingeleitete Organstreitverfahren damit in vollem Umfang erfolgreich.

Richterin formuliert abweichende Meinung in Sondervotum

Die Entscheidung des BVerfG ist mit 5 zu 3 Stimmen ergangen. Bundesverfassungsrichterin Astrid Wallrabenstein hat dem Beschluss ein abweichendes Sondervotum beigefügt.

Nach dem Sondervotum unterliegen die politischen Äußerungen einer Kanzlerin grundsätzlich keiner Neutralitätskontrolle durch das BVerfG. Die Differenzierung zwischen den Äußerungen einer Kanzlerin als Inhaberin des Kanzleramtes einerseits und als Politikerin einer Partei andererseits seien nicht realitätsgerecht. Bürgerinnen und Bürger seien sehr wohl in der Lage, zwischen Amt und parteipolitischer Zugehörigkeit zu unterscheiden. An Minister und an die Kanzlerin habe die Bevölkerung nur begrenzte Neutralitätserwartungen. Auch die Regierungsarbeit sei in einer Parteiendemokratie parteipolitisch geprägt. Äußerungen einer Bundeskanzlerin oder eines Ministers seien selten neutral, vielmehr beruhten sie auf Prägungen, Überzeugungen und Wirklichkeitswahrnehmungen, die in einer Gesellschaft sehr unterschiedlich seien. Dies sei den meisten Bürgerinnen und Bürgern bewusst. Einschränkungen der Meinungsäußerungen von Regierungsmitgliedern - wie durch das BVerfG nun verfügt - seien in begrenztem Umfang allenfalls in Wahlkampfzeiten angemessen.

(BVerfG, Urteil v. 15.6.2022, 2 BvE 4/20 u. 2 BvE 5/20)