Frauenärzte wegen Tötung eines Kindes im Mutterleib verurteilt

Das LG Berlin hat zwei Frauenärzte wegen Totschlags zu Bewährungsstrafen verurteilt, weil sie einem schwer hirngeschädigten Zwilling, bei dem die medizinische Indikation für einen Spätabbruch der Schwangerschaft vorlag, nach einem Kaiserschnitt noch im Mutterleib eine tödliche Injektion verabreicht hatten: Zu diesem Zeitpunkt handelte es sich eben nicht mehr um einen Fötus.

Wegen gemeinschaftlich begangenem Totschlag verurteilte das Fazit des Berliner LG wegen eines Vorfalls vor 9 Jahren die inzwischen 58-jährige Oberärztin und den 73-jährigen Chefarzt im Ruhestand.

Einem Zwilling mit schwerer Hirnschädigung auf Elternwunsch tödliche Injektion verabreicht

Im Jahr 2010 hatten sie im Rahmen eines Kaiserschnitts ein Zwillingsmädchen mit schwerer Hirnschädigung auf Wunsch der Eltern getötet. Zur Anzeige war es durch einen anonymen Brief eines Mitarbeiters der Berliner Klinik gekommen, der darin erklärte, er sei nicht mehr bereit, die immer höhere Zahl von problematischen Spätabtreibungen an der Klinik zu tolerieren.

Hochrisikoschwangerschaft

Anlass war ein schwerer Gehirnschaden des Kindes. Im Verlauf der Schwangerschaft hatten die Ärzte eines Hamburger Krankenhauses festgestellt, dass die beiden Zwillingsföten sich als eineige Zwillinge die mütterliche Plazenta teilten. Dies führt regelmäßig zu einer Hochrisikoschwangerschaft. Ein Experte erläuterte im Prozess, dass solche Kinder auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden sind.

Ein Zwilling mit deutlich reduzierter Gehirnmasse

Im Verlauf der Schwangerschaft kam es dann ab der 32. Schwangerschaftswoche zu erheblichen Komplikationen. Die Schwangere wurde in die Berliner Klinik verlegt, an der die beiden angeklagten Ärzte tätig waren.

Bei einem der Mädchen wurde eine massive Hirnschädigung festgestellt. Die Hirnmasse war so klein, dass sie kaum messbar war. Damit lag eine medizinische Indikation für einen Spätabbruch der Schwangerschaft vor.

Es gab zwei medizinisch mögliche Alternativen

Nach ärztlicher Beratung entschieden sich die Eltern für eine Abtreibung/Tötung des erkrankten Zwillingskindes. Hierfür gab es medizinisch zwei Optionen: Die erste medizinische Möglichkeit wäre ein sogenannter selektiver Fetozid gewesen. Hierbei wird die Bauchdecke der Schwangeren geöffnet und der kranke Fötus entnommen. Diese Vorgehensweise stellt ein nicht ganz unerhebliches Risiko für das gesunde Zwillingskind dar, weshalb die Ärzte von dieser Option abrieten.

Eltern entschieden sich für das geringere gesundheitliche Risiko

Die Eltern entschieden sich daher für die zweite mögliche Variante, die darin bestand, dass zunächst das gesunde Kind durch Kaiserschnitt entbunden wird und anschließend dem kranken Kind noch im Uterus eine zum Tode führende Kaliumchloridinjektion verabreicht wird.

Die Verteidigung argumentierte, die Ärzte seien von einer zulässigen Spätabtreibung ausgegangen. Sie hätten "den maximal sicheren Weg" für den gesunden Fötus gehen wollen und Eine medizinische Indikation für einen späten Abbruch habe vorgelegen. 

Mit Einleitung der Geburt wird der Fötus zum Mensch

Für diese Argumentation und den von den Eltern und Ärzten gewählte Option zeigte das LG Berlin kein Verständnis. Nach Einsetzen der Wehen hätten die Ärzte den Mutterleib geöffnet und das gesunde Kind zur Welt gebracht. Mit der Eröffnung des Mutterleibs sei das noch im Uterus befindliche Kind rechtlich nicht mehr als Fötus, sondern als Mensch zu werten.

Ein solches -  wenn auch stark behindertes - Kind zu töten, komme einem „Aussortieren von kranken oder behinderten Säuglingen“ gleich und sei strafrechtlich eindeutig als Tötung eines Menschen zu werten.

Angeklagte halten ihr Vorgehen für verantwortungsvoll

Die beiden angeklagten Gynäkologen hatten darauf gepocht, dass ein Zwilling, solange er sich noch im Uterus befindet, als Fötus anzusehen sei. Medizinisch wäre der selektive Fetozid während der Schwangerschaft ein medizinisches Risiko sowohl für die Mutter also für das gesunde Kind gewesen. Die gewählte Vorgehensweise sei daher medizinisch indiziert gewesen.

Gericht sieht rechtlich nur zwei Optionen: Abtreibung oder Geburt

Das LG nahm den beiden Ärzten nicht ab, dass sie als erfahrene Gynäkologen bei eingeleitetem Kaiserschnitt das im Uterus befindliche Kind noch als Fötus angesehen hätten. Ihnen hätte klar sein müssen, dass - wenn die Eltern das geschädigte Kind nicht wollten - nur die Option bestanden habe, während der Schwangerschaft einen rechtlich zulässigen Spätabbruch durch Öffnung der Bauchdecke und Entnahme des kranken Fötus vorzunehmen, auch wenn hierbei ein gesundheitliches Risiko für das gesunde Kind entstanden wäre. Die andere rechtlich zulässige Option sei ausschließlich die Geburt beider Kinder gewesen.

Beide Angeklagten seien zum Zeitpunkt der Geburt erfahrene Gynäkologen gewesen. Ein Aussortieren eines behinderten Kindes sei rechtlich in keiner Weise hinnehmbar. Würde das Gericht in einem solchen Fall den Tatbestand der Tötung verneinen, so wäre dies ein durch nichts zu rechtfertigender Schlag ins Gesicht behinderter Menschen.

Rote Linie überschritten

Wann wird aus einem Fötus ein Mensch, das war die Frage, die das Gericht zu beantworten hatte. Die Antwort fiel eindeutig aus. Nach Auffassung des Gerichts war die rote Linie zur Tötung mit Einleitung der Geburt eindeutig überschritten. Das Gericht bewertete angesichts der Besonderheiten des Falles das Vorgehen der beiden Ärzte als minder schweren Fall des Totschlags im Sinne von § 213 StGB und belegte den Chefarzt mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten, die Ärztin mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten.

Die höhere Strafe des ehemaligen Chefarztes begründete das Gericht, das in der Urteilsbegründung mit harschen Worten die Moralkeule schwang,

Auch Feld-, Wald- und Wiesenärzte wissen, dass es verboten ist, ein Kind im offenen Mutterleib totzuspritzen“.

damit, dass dieser sich während der Verhandlung bis zum Schluss äußerst uneinsichtig gezeigt habe.

(LG Berlin, Urteil v. 19.11.2019, 532 Ks 7/16).


Anmerkung: 

Kommentierungen wie die von Fatina Keilani im Tagesspiegel weisen darauf hin, dass hier eine Pflichtenkollision vorgelegen habe, da eine Spätabtreibung das Leben und die Gesundheit des anderen Zwillings gefährdet hätte. Es gab die Möglichkeit der legalen, also straffreien Tötung, allerdings um den Preis des höheren Risikos für die Schwester.

Das letzte Wort dürfte der BGH haben

Beide Freiheitsstrafen setzte das Gericht zur Bewährung aus. Bei Rechtskraft des Urteils droht der Gynäkologin der Verlust der Approbation. Beide Ärzte haben bereits angekündigt, gegen das Urteil Revision beim BGH einzulegen.


Hintergrund:

Die Frage, wann genau das Leben als Mensch beginnt, ist nicht ganz unumstritten. Gemäß § 1 BGB tritt die Rechtsfähigkeit eines Menschen erst mit Vollendung der Geburt an. Die meisten Strafrechtler sehen die Fähigkeit einer Person, Träger von Rechten zu sein, aber nicht als für die strafrechtliche Beurteilung entscheidend an. In der Regel wird auf die seit dem 10.12.2015 entfallene Vorschrift der Kindstötung des § 217 StGB a.F. verwiesen. Diese Regelung hatte die Tötung eines Kindes durch die Mutter in und unmittelbar nach der Geburt unter einen milderen Strafrahmen gestellt. Der Formulierung dieser Vorschrift sei zu entnehmen, dass bereits die Tötung „in“ der Geburt als die Tötung eines Menschen und nicht als Abtreibung zu werten sei. Daraus sei abzuleiten, dass das menschliche Leben im strafrechtlichen Sinne mit Einleitung der Geburt, beim Kaiserschnitt also mit der Öffnung des Mutterleibs beginnt. Eine endgültige Klärung dieser höchstrichterlich bisher nicht entschiedenen Frage dürfte nun also im Zuge des Revisionsverfahrens durch den BGH kommen.


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