
Die beiden EU-Länder Polen und Ungarn sind mit ihren Klagen beim EuGH gegen den von der EU neu eingeführten Konditionalitätsmechanismus gescheitert. Damit hat die EU künftig die Möglichkeit, bei Rechtsstaatsverstößen Mittel aus dem EU-Haushalt für die betreffenden Staaten zu kürzen.
Mit seinen Entscheidungen hat der EuGH die Neuregelung der EU zur Ahndung von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit in der EU für rechtmäßig erklärt. Polen und Ungarn hatten gegen die zum 01.01.2021 in Kraft gesetzte „Verordnung über die Konditionalität der Rechtsstaatlichkeit“ eine Nichtigkeitsklage erhoben.
Bei Verletzung wesentlicher Rechtsstaatsprinzipien droht Mittelkürzung
Der Konditionalitätsmechanismus ist Bestandteil des mehrjährigen EU-Haushalts. Das neue Instrument sieht die Möglichkeit des Entzugs von Haushaltsmitteln für Länder vor, in denen wesentliche Rechtsstaatsprinzipien verletzt werden, wenn hierdurch die rechtmäßige Verwendung von EU-Haushaltsmitteln gefährdet wird. In diesem Fall entsteht ein Vorschlagsrecht für die EU-Kommission, die Auszahlung von Mitteln aus dem EU-Haushalt für das betreffende Land zu kürzen.
Polen und Ungarn sehen sich im Fokus der Neuregelung
Polen und Ungarn rechnen konkret mit Nachteilen infolge dieser Verordnung. Beide Staaten stehen seit längerem in der öffentlichen Kritik. Ihnen wird vorgeworfen, durch neue Gesetze die Rechtsstaatlichkeit im eigenen Land auszuhöhlen, indem Richter und Staatsanwälte unter politische Kontrolle gestellt würden. Die ungarische und die polnische Regierung weisen die Vorwürfe zurück und werfen der EU vor, die Drohung mit Mittelkürzungen zu missbrauchen, um sich in innerstaatliche Angelegenheiten der Mitgliedstaaten einzumischen.
Vorwurf der Überschreitung der EU-Befugnisse
Die polnische und die ungarische Regierung beanstanden darüber hinaus das Fehlen einer Rechtsgrundlage für die neue Verordnung. Weder der EU-Vertrag (EUV) noch der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) enthielten eine Rechtsgrundlage für die vorgesehenen Rechtsstaatsverfahren. Die EU habe ihre Befugnisse mit der Neuregelung überschritten.
Rechtsstaatlichkeit für alle EU-Staaten prägend
Der EuGH sieht dies anders und betont in seinen Entscheidungen, dass die neue Verordnung auf einer rechtssicheren Grundlage beruhe. Der EU-Vertrag setze das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten voraus, die gemeinsamen Werte zu achten, auf denen die Union gegründet ist. Zu diesen unumstößlichen Werten gehören nach dem Urteil des EuGH Rechtsstaatlichkeit und Solidarität. Diese Werte der Union seien für sämtliche Mitgliedstaaten prägend.
EU muss ihre Werte schützen können
Aus dieser Werteorientierung leitet der EuGH das Recht der EU ab, diese Werte im Rahmen der ihr übertragenen Aufgaben zu verteidigen. Vor diesem Hintergrund bewertet der EuGH die Neuregelung als geeignetes Mittel, den Unionshaushalt vor Beeinträchtigungen zu schützen, die sich unmittelbar aus Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit ergeben. Nicht die Ahndung von Verstößen sei das Ziel der Regelung, sondern der Schutz der grundlegenden EU-Werteorientierung.
Sicherstellung wertekonformer Mittelverwendung
Nach Auffassung des EuGH bedarf der EU-Haushalt als wichtiges Mittel für den finanziellen Ausgleich zwischen den Staaten des besonderen Schutzes einer wertekonformen Mittelverwendung. Die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union und deren finanzielle Interessen stünden in der Gefahr, durch Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit schwer beeinträchtigt zu werden. Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit könnten beispielsweise zur Folge haben, dass die Gewähr für die zweckgerichtete Verwendung der vom Unionshaushalt gedeckten Ausgaben nicht gegeben sei und in der Folge Mitgliedstaaten Ausgaben finanzieren, die den grundlegenden Werten der Union nicht entsprechen.
Konditionalitätsmechanismus dient der Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit
Hieraus folgert der EuGH, dass ein „horizontaler Konditionalitätsmechanismus“, mit dem der Erhalt von Mitteln aus dem Haushalt davon abhängig gemacht wird, dass die Mitgliedstaaten die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit beachten, ein geeignetes Mittel zur Verteidigung der grundlegenden Unionswerte ist.
Grundlegende Merkmale der Rechtsstaatlichkeit sind definiert
Den Einwand der Kläger, die Neuregelung beeinträchtige die Rechtssicherheit innerhalb der Union, da der Begriff der Rechtsstaatlichkeit nicht definiert werde, ließ der EuGH nicht gelten. Auch hier betonte der EuGH die gemeinsamen Wertvorstellungen der Mitgliedstaaten, die auf einem grundlegend vergleichbaren Verständnis der Rechtsstaatlichkeit auf der Grundlage der Gewaltenteilung basierten. Der Begriff der Rechtsstaatlichkeit sei damit hinreichend genau definiert.
Mittelkürzung droht nur bei echter Wertegefährdung
Schließlich stellt die Neuregelung nach Einschätzung des EuGH sicher, dass eine Ahndung von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit in Form des Entzugs von Haushaltsmitteln nur dann in Betracht komme, wenn zwischen der Beeinträchtigung der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat und der wirtschaftlichen Führung des Haushalts der Union ein „echter Zusammenhang“ besteht. Eine Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Führung des EU-Haushalts durch die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit in dem betreffenden Staat müsse nach der Neuregelung ernsthaft drohen, um wirtschaftliche Folgen für den betreffenden Staat auszulösen.
Klare Verfahrensregeln
Schließlich wies der EuGH auf die strengen Verfahrenserfordernisse für die Auslösung des Konditionalitätsmechanismus hin. Unter anderem müsse dem Mitgliedstaat hiernach mehrfach Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden.
Anwendung des Konditionalitätsmechanismus ab sofort möglich
Nach den Entscheidungen des EuGH kann der Haushaltsmechanismus nun zur Anwendung kommen. Die Vorsitzende der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, hat einerseits angekündigt, den Konditionalitätsmechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in den EU-Ländern effektiv einsetzen zu wollen. Andererseits sollen die Urteile des EuGH zunächst sorgfältig geprüft werden. In Ungarn findet im April 2022 die Parlamentswahl statt. Eine vorherige Auslösung des Konditionalitätsmechanismus gegen Ungarn könnte als Einmischung der EU in den Wahlkampf verstanden werden. Insofern wird die EU mit der Umsetzung wohl eher noch abwarten.
(EuGH, Urteile v. 16.2.2022, C-156/21 und C-157/21)
Hintergrund:
Die Staats- und Regierungschefs hatten sich unter Zustimmung der EU-Kommission im Sommer 2020 darauf geeinigt, den Konditionalitätsmechanismus während des laufenden Verfahrens vor dem EuGH noch nicht zur Anwendung zu bringen. Nur hierdurch waren die ungarische und die polnische Regierung bereit, ihre Blockade wichtiger EU-Haushaltsentscheidungen aufzugeben.
Inhalt der EU-Konditionalitätsverordnung
Die zum 1.1.2021 in Kraft getretene allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des EU-Haushalts ermöglicht es der EU, Maßnahmen zum Schutz des Haushalts der EU zu ergreifen, unter anderem die Aussetzung von Zahlungen sowie Finanzkorrekturen. Maßnahmen nach dieser Verordnung können nur vorgeschlagen werden, wenn die Kommission feststellt, dass Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder die finanziellen Interessen der Union unmittelbar beeinträchtigen oder ernsthaft zu beeinträchtigen drohen.
Der Rat hat das letzte Wort
Das Instrument ergänzt den europäischen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus, in dessen Zentrum der jährliche Bericht über die Rechtsstaatlichkeit der Staaten steht. Im Rahmen der Konditionalitätsverordnung legt die Kommission dem Rat Vorschläge für zweckmäßige und verhältnismäßige Maßnahmen vor. Der Rat entscheidet dann abschließend über die Vorschläge.
Grundlegende Regelungen im EU-Vertrag
Art. 7 EUV bestimmt, dass auf begründeten Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission der Rat mit der Mehrheit von vier Fünftel seiner Mitglieder nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen kann, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte (u.a. Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit) durch einen Mitgliedstaat besteht. Eine solche Feststellung setzt die Anhörung des betroffenen Mitgliedstaats voraus. Darüber hinaus trifft den Rat eine ständige Überprüfungspflicht, ob die Gründe, die zu der Feststellung geführt haben, noch zutreffen. Gemäß Art. 7 Abs. 3 EUV kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit bestimmte Rechte für diesen Staat aussetzen.