EuGH stärkt das Anwaltsgeheimnis

Die von der EU vorgesehenen Mitteilungspflichten der Rechtsanwälte im Rahmen der Bekämpfung aggressiver, grenzüberschreitender Steuerplanung verletzen das Recht der Anwälte auf Achtung der Kommunikation mit ihren Mandanten.

In einem aktuellen Urteil setzt sich der EuGH ausführlich mit dem Schutz des Anwaltsgeheimnisses auseinander und räumt diesem einen außerordentlich hohen Rang ein. Die vom EuGH dabei aufgestellten Grundsätze betreffen nicht nur den in das konkrete Verfahren involvierten Mitgliedsstaat Belgien, sondern wirken mit Blick auf die u.a. auch in Deutschland im Rahmen der Bekämpfung internationaler Kriminalität diskutierte Ausweitung der anwaltlichen Meldepflichten weit über den konkreten Fall hinaus.

EU-Richtlinie statuiert Meldepflichten für Rechtsanwälte

Die Entscheidung des EuGH betrifft die EU-Richtlinie 2011/16/EU über „die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung“, im Jahr 2018 modifiziert durch die Richtlinie 2018/822/EU. Diese sieht vor, dass alle Intermediäre, die an potenziell aggressiven grenzüberschreitenden Steuerplanungen beteiligt sind, die zu Steuerhinterziehung und Steuerbetrug führen können, diese den zuständigen Steuerbehörden melden müssen. Erfasst von dieser Regelung werden auch sämtliche Personen, die bei einer solchen Steuerplanung Unterstützung oder Beratung leisten (also auch Rechtsanwälte) sowie der Steuerpflichtige selbst.

EU-Richtlinie im flämischen Teil Belgiens umgesetzt

Die einzelnen Mitgliedsländer haben die Möglichkeit, Rechtsanwälte von dieser Meldepflicht zu befreien, wenn diese andernfalls gegen eine nach nationalem Recht vorgesehene Verschwiegenheitspflicht verstoßen würden. Im Fall einer solchen Befreiung sind die Rechtsanwalts-Intermediäre jedoch verpflichtet, andere Intermediäre unverzüglich über ihre an sich bestehenden Meldepflichten gegenüber den zuständigen Behörden zu unterrichten. In Belgien wurde diese EU-Regelung durch ein für die Region Flamen geltendes Dekret in geltendes Recht umgesetzt.

Belgischer Verfassungsgerichtshof ruft EuGH an

Zwei anwaltliche Berufsverbände in Belgien haben sich wegen dieses Dekrets an den belgischen Verfassungsgerichtshof gewandt. Sie vertreten die Auffassung, es sei ohne Verletzung des anwaltlichen Berufsgeheimnisses unmöglich der Verpflichtung zur Unterrichtung andere intermediäre nachzukommen. Der belgische Verfassungsgerichtshof hat das Verfahren ausgesetzt und den EuGH um Auslegung der betreffenden EU-Richtlinie gebeten.

EU-Grundrechte-Charta schützt anwaltliche Korrespondenz

In seinem Urteil verweist der EuGH zunächst auf Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der die Vertraulichkeit jeglicher Korrespondenz zwischen Privatpersonen sowie dem Schriftwechsel zwischen Rechtsanwälten und ihren Mandanten in besonderer Weise schützt. Der besondere Schutz der anwaltlichen Korrespondenz beruht nach den Feststellungen des EuGH auf der für eine demokratische Gesellschaft grundlegenden Aufgabe der Rechtsanwaltschaft, die Rechte der Rechtsunterworfenen zu verteidigen und zu schützen.

Existenz und Inhalt eines Mandats werden geschützt

Die Stellung der Rechtsanwaltschaft erfordert es nach dem Diktum des EuGH, dass jeder einzelne Rechtssuchende sich völlig frei an einen Rechtsanwalt wenden kann, ohne befürchten zu müssen, dass die Mandatierung publik wird oder Inhalte der mit dem Anwalt geführten Gespräche an Behörden oder sonstige Dritte weitergegeben werden. Das anwaltliche Berufsgeheimnis genieße - bis auf wenige unvermeidbare Ausnahmen - absoluten Schutz. Dieser Schutz umfasse sowohl den Inhalt eines Mandats als auch dessen Existenz.

Multiple Verletzungen des Berufsgeheimnisses

Dieser umfassende Schutz des Berufsgeheimnisses wird nach der Entscheidung des EuGH durch das in Umsetzung der EU-Richtlinie erlassene flämische Dekret verletzt. Die in der Richtlinie und in der Folge in dem flämischen Dekret vorgesehene Pflicht des an das Berufsgeheimnis gebundenen Rechtsanwalts-Intermediärs, die anderen Intermediäre unverzüglich über die - aufgrund des Berufsgeheimnis nicht umsetzbaren - Meldepflichten zu unterrichten, habe gleich mehrere Verletzungen des Berufsgeheimnisses zur Folge:

  • So werde der zu unterrichtende andere Intermediär sowohl über die Identität des Rechtsanwalt-Intermediärs in Kenntnis gesetzt als auch
  • über das Ergebnis von dessen rechtlicher Analyse, dass die in Rede stehende Steuergestaltung meldepflichtig ist.
  • Außerdem werde der Umstand offengelegt, dass der Anwalt zu diesem Thema konsultiert wurde.
  • Schließlich bewirke die sich anschließende Meldepflicht der anderen Intermediäre gegenüber der zuständigen Steuerbehörde eine nochmalige Verletzung dieser Verschwiegenheitsgrundsätze.

Mitteilungspflichten zum Schutz höherrangiger Rechtsgüter nicht erforderlich

Der EuGH stellte dann allerdings klar, dass eine solche Verletzung des Berufsgeheimnisses in außergewöhnlichen Fällen durch den Schutz höherwertiger Rechte gerechtfertigt sein könne. Eine solche Rechtfertigung setze allerdings voraus, dass der Eingriff in die Berufsfreiheit zur Abwendung einer Gefährdung anderer Rechte erforderlich ist. Diese Erforderlichkeit sei im vorliegenden Fall nicht gegeben.

Meldepflichten der nicht-anwaltlichen Intermediäre genügen

Zur Bekämpfung schwerer Steuerkriminalität reichen nach Auffassung des EuGH die nach der EU-Richtlinie bestehenden Meldepflichten der übrigen, nicht unter die Verschwiegenheitspflicht fallenden Intermediäre sowie die dem Steuerpflichtigen selbst obliegende Meldepflicht aus. Sobald die Steuerverwaltung eine steuerrelevante Information von einem – nicht anwaltlichen - Intermediär erhalten habe, sei sie ohne weiteres in der Lage, ergänzende Informationen unmittelbar von dem Steuerpflichtigen zu verlangen und gegebenenfalls eine steuerliche Überprüfung der finanziellen Situation des Steuerpflichtigen auch gegen dessen Willen durchzuführen. Eine zusätzliche Meldepflicht der Rechtsanwalt-Intermediäre sei zur Aufdeckung von Steuerbetrug daher nicht erforderlich.

Anwaltliche Meldepflichten sind rechtswidrig

Im Ergebnis bewertet der EuGH die anwaltlichen Meldepflichten als schweren Eingriff in das nach Art. 7 der EU-Grundrechte-Charta geschützte Recht auf Achtung der Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Mandant. Die Meldepflichten sind daher unzulässig.

(EuGH, Urteil v. 8.12.2022, C-694/20)

Entscheidung des EuGH hat Bedeutung auch für Deutschland

Der DAV hat die Entscheidung des EuGH begrüßt. Die in § 43a BRAO geregelte anwaltliche Verschwiegenheitspflicht werde durch die Entscheidung gestärkt. Gelegentliche Ankündigungen aus der Politik, u.a. zur Bekämpfung von Geldwäsche vergleichbare anwaltliche Meldepflichten einzuführen, würden damit deutlich im Sinne einer Wahrung des anwaltlichen Berufsgeheimnisses relativiert.

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