Erfolgloser Befangenheitsantrag gegen BVerfG-Präsidenten

Das BVerfG hat einen Befangenheitsantrag von Abgeordneten der Partei „Freie Wähler“ gegen den BVerfG-Präsidenten Harbarth und die Richterin Baer in einem Verfahren zur Verfassungsmäßigkeit der Corona-Notbremse zurückgewiesen.

Die Abgeordneten der Partei „Freie Wähler“ führen zurzeit eine Verfassungsbeschwerde gegen das „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“. Sie bestreiten insbesondere die Verfassungsgemäßheit der mit dem Gesetz eingeführten Ausgangsbeschränkungen nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG.

Befangenheitsantrag gegen Verfassungsrichterin und Gerichtspräsidenten

Im Rahmen der Verfassungsbeschwerde hatte der Rechtsanwalt der Beschwerdeführer gegen den Präsidenten des BVerfG Stephan Harbarth und die Bundesverfassungsrichterin Susanne Baer einen Antrag auf Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit gestellt. Den Befangenheitsantrag hatten die Beschwerdeführer mit einem Treffen der Verfassungsrichter und Mitgliedern der Bundesregierung am 30.6.2021 begründet. Sie rügten insbesondere

  • die Einflussnahme des Gerichtspräsidenten auf die Auswahl der dort erörterten Themen, die einen Bezug zur konkret anhängigen Verfassungsbeschwerde erkennen ließen,
  • eine spätere Pressemitteilung des BVerfG zu der anhängigen Verfassungsbeschwerde, wonach mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren ohne mündliche Verhandlung zu rechnen sei sowie
  • Äußerungen des Gerichtspräsidenten in einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen“, in welchem der Gerichtspräsident den Coronamaßnahmen der Bundesregierung ein insgesamt gutes Zeugnis ausgestellt habe.

Beschwerdeführer befürchten Voreingenommenheit

Die Richterin Susanne Baer hatte bei dem Treffen mit der Bundesregierung einen Vortrag zum Thema „Entscheidung unter Unsicherheiten“ gehalten. Dieses vom Gerichtspräsidenten Harbarth vorgeschlagene Thema weist nach der Bewertung der Beschwerdeführer einen eindeutigen Bezug zu dem von ihnen geführten Verfahren auf. Die Beschwerdeführer befürchteten, die abgelehnte Richterin habe sich bereits während des Treffens und des damit verbundenen gemeinsamen Abendessens mit der Bundesregierung zu bedeutsamen Sach- und Rechtsfragen betreffend das anhängige Verfahren geäußert. Diese Vorgänge sind nach Auffassung der Beschwerdeführer geeignet, ihr Vertrauen in eine unvoreingenommene Entscheidung durch die Verfassungsrichter Harbarth und Baer zu erschüttern.

Erster Senat weist Befangenheitsvorwurf zurück

Die mit dem Befangenheitsgesuch befassten übrigen Mitglieder des Ersten Senats wiesen den Befangenheitsantrag zurück. Die Auswahl der Themen für den Gedanken- und Erfahrungsaustausch mit der Bundesregierung habe der Gerichtspräsident ausweislich seiner dienstlichen Stellungnahme zum Befangenheitsgesuch unter dem Gesichtspunkt getroffen, mit Mitgliedern der Bundesregierung abstrakte und zeitlose Fragestellungen betreffend die Arbeit des BVerfG zu diskutieren. Auch die öffentlichen Äußerungen des Gerichtspräsidenten in dem Zeitungsinterview mit der FAZ seien sehr allgemein gehalten gewesen und enthielten nach Auffassung der Verfassungsrichter keinerlei Bewertung konkreter Maßnahmen, insbesondere keine Bewertung der verfahrensgegenständlichen Bundesnotbremse.

Gedankenaustausch der Verfassungsorgane führt nicht zur Befangenheit

Ein Gedanken- und Erfahrungsaustausch zwischen Verfassungsorganen begründet nach der Bewertung des Ersten Senats grundsätzlich keinen bösen Schein einer möglicherweise fehlenden Unvoreingenommenheit. Dies gelte insbesondere auch für das von Stephan Harbarth ausgewählte Thema „Entscheidung unter Unsicherheiten“, in dessen Rahmen Rechtsfragen zu den Kontrollmaßstäben des BVerfG unter den Bedingungen unsicherer Tatsachengrundlagen diskutiert werden sollten.

Erörterung allgemeiner Rechtsprobleme zulässig und sinnvoll

Das BVerfG wies darauf hin, dass unsichere tatsächliche Bedingungen Gegenstand diverser Verfahren beim BVerfG sind. Neben der Beurteilung der Corona-Pandemie seien tatsächliche und rechtliche Grundlagen beispielsweise in dem Verfahren zum Klimaschutz oder auch in wirtschaftsrechtlichen Verfahren, beispielsweise zur Einschätzung der künftigen Zinsentwicklung, in vielerlei Hinsicht unsicher. Bei den Erörterungen der Verfassungsrichter mit Mitgliedern der Bundesregierung sei es abstrakt um die anzuwendenden Entscheidungsmaßstäbe des Gerichts im Rahmen solcher Verfahren gegangen. Die Diskussion habe damit Fragestellungen mit übergreifenden Charakter ohne konkreten Bezug zu dem von den Beschwerdeführern eingeleiteten Verfahren gehabt.

Rechtstheoretische Vorträge führen nicht zur Befangenheit von Verfassungsrichtern

Auch der Rechtsvortrag der Richterin Baer ist nach Auffassung der Verfassungsrichter nicht zu beanstanden. Gegenstand des Vortrags seien abstrakte Überlegungen zu der Frage gewesen, dass Gerichte mit der Dynamik und Komplexität von Wissen vor dem Hintergrund unterschiedlicher Handlungsrationalität der einzelnen Verfassungsorgane anders umzugehen hätten als die Legislative und die Exekutive. Ein konkreter Bezug zu einem beim BVerfG anhängigen Verfahren habe auch hier nicht bestanden. Rechtswissenschaftlich ausgerichtete Vorträge durch Richter am BVerfG begründen grundsätzlich keine Besorgnis der Befangenheit, und zwar unabhängig davon ob diese vor Studenten oder vor Mitgliedern der Bundesregierung gehalten würden.

Befangenheitsbegründung war völlig ungeeignet

Im Ergebnis können nach der Entscheidung des BVerfG allgemeine rechtliche Äußerungen von Verfassungsrichtern außerhalb des Gerichts die Besorgnis der Befangenheit nur dann begründen, wenn weitere Umstände in der Person des abgelehnten Richters hinzutreten, aus denen auf eine fehlende Unvoreingenommenheit und insbesondere eine Vorfestlegung zu entscheidungsrelevanten Rechtsfragen geschlossen werden könnte. Solche weiteren Umstände seien hier nicht ersichtlich. Die von den Beschwerdeführern vorgetragenen Gründe zur Besorgnis der Befangenheit waren nach Auffassung des Gerichts daher völlig ungeeignet, eine Besorgnis der Befangenheit zu begründen.


BVerfG, Beschluss v. 12.10 2021 (1 BvR 781/21)


Hintergrund

Die jetzt vom BVerfG getroffene Befangenheitsentscheidung ist bereits die zweite Ablehnung eines Befangenheitsantrags durch das BVerfG innerhalb weniger Wochen.

Auch die AfD rügte gemeinsames Abendessen mit Bundesregierung

Erst kürzlich hatte die AfD-Fraktion in einem Organstreitverfahren betreffend die Äußerungen der Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Landtagswahl in Thüringen wegen des gleichen Treffens zwischen Bundesregierung und Verfassungsrichtern einen Befangenheitsantrag gegen den gesamten Zweiten Senat gestellt. Die Bundeskanzlerin hatte nach der Wahl von Thomas Kemmerich im Jahre 2020 mit den Stimmen von CDU, FDP und AfD zum Thüringer Ministerpräsidenten erklärt, die Wahl müsse rückgängig gemacht werden, die Wahl zum Ministerpräsidenten mit den Stimmen der AfD sei „unverzeihlich“. Diese Äußerungen der Kanzlerin griff die AfD in einem Organstreitverfahren vor dem BVerfG als verfassungswidrig an und sah insbesondere in dem mit dem Treffen verbundenen gemeinsamen Abendessen von Verfassungsrichtern und Regierungsmitgliedern einschließlich Kanzlerin nur wenige Wochen vor der mündlichen Verhandlung Befangenheitsgründe.

Dialog der Verfassungsorgane ist demokratische Normalität

Der Zweite Senat des BVerfG entschied selbst in voller Besetzung über das Ablehnungsgesuch, da dieses nach seiner Auffassung offensichtlich unzulässig war. Bei offensichtlicher Unzulässigkeit seien die abgelehnten Richter weder zur Abgabe einer dienstlichen Erklärung verpflichtet noch von der Entscheidung über das Ablehnungsgesuch ausgeschlossen. Dies war jetzt im Fall des Befangenheitsgesuchs der Abgeordneten der Freien Wähler anders. Auch in dem AfD-Verfahren vertrat das BVerfG die Auffassung, es gehöre zur demokratischen Normalität, dass das höchste deutsche Gericht mit anderen Verfassungsorganen im regelmäßigen Dialog steht und wies den Befangenheitsantrag der AfD als offensichtlich unzulässig ab.