Entführtes Kind muss nicht in Kriegsgebiet zurück

Das OLG Stuttgart lehnte in einem Fall von Kindesentführung die Rückführung des entführten Kindes in die Ukraine wegen schwerwiegender Gefahren für die körperliche und seelische Gesundheit des Kindes ab.

In seiner Entscheidung hatte das OLG sich mit dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung“ vom 25.10.1980 auseinanderzusetzen, das im Fall einer Kindesentführung die sofortige Rückgabe des Kindes vorsieht.

Eigenmächtige Flucht der Mutter mit ihrem Kind aus der Ukraine

In dem vom OLG entschiedenen Fall hatte die Kindesmutter gemeinsam mit ihrem Ehemann und der einjährigen Tochter bis März 2022 in Odessa gelebt. Die Eheleute hatten das gemeinsame Sorgerecht inne. Nachdem über mehrere Tage Fliegeralarm ausgelöst wurde, hatten die Eltern die Nächte zusammen mit ihrem Kind häufig in einem Fahrzeug in einer Tiefgarage verbracht. In dieser Situation entschloss sich die Mutter, ohne Rücksprache mit dem Vater, gemeinsam mit ihrem Kind nach Deutschland fliehen.

Kindesvater beantragt gerichtlich Rückführung des Kindes

Der Kindesvater begehrte darauf beim zuständigen deutschen Familiengericht die Rückführung seiner Tochter in die Ukraine. Die Mutter lehnte die Rückführung wegen der in Odessa lauernden Kriegsgefahren ab. Sowohl das AG als auch in 2. Instanz das OLG wiesen den Rückführungsantrag des Vaters ab.

Verfahren im Haager Übereinkommen geregelt

Seine Beschwerdeentscheidung stützte das OLG im wesentlichen auf das Haager „Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung“ vom 25.10.1980 (HKÜ). Diesem multilateralen Abkommen sind bis Ende 2019 insgesamt 101 Staaten beigetreten, darunter Deutschland und die Ukraine. Das HKÜ hat die Sicherstellung der Rückführung widerrechtlich aus einem Vertragsstaat in einen anderen Vertragsstaat verbrachte oder dort zurückgehaltene Kinder sowie die Beachtung des Sorgerechts und des Rechts zum persönlichen Umgang der Eltern mit ihrem Kind zum Ziel.

Regelfall bei Entführung: Sofortige Rückgabe des Kindes

Gemäß Art. 3 HKÜ gilt ein Kind als widerrechtlich entführt, wenn es unter Verletzung des Sorgerechts einer sorgeberechtigten Person an einen anderen Ort als an seinen gewöhnlichen Aufenthalt verbracht wird und dort zurückgehalten wird. Gemäß Art. 12 HKÜ ordnet in einem solchen Fall das Gericht, in dessen Bezirk sich das Kind befindet, die sofortige Rückgabe des Kindes an.

Amtsgericht am Aufenthaltsort zuständig

Nach der Entscheidung des OLG war nach diesen Vorschriften das deutsche Amtsgericht am Aufenthaltsort des Kindes für die Entscheidung über den Antrag des Vaters auf Rückführung des Kindes zuständig. Die Voraussetzungen für eine Rückführungsanordnung waren nach Auffassung des OLG grundsätzlich gegeben, da die Mutter das Kind ohne Einverständnis des sorgeberechtigten Vaters nach Deutschland verbracht und damit dessen Sorgerecht verletzt hatte.

Keine Rückführung bei schwerwiegender Gefährdung des Kindes

Dennoch war nach der Entscheidung des OLG vorliegend von einer Rückführungsanordnung abzusehen. Gemäß Art. 13 HKÜ kann ein Staat von einer Rückgabeanordnung absehen, wenn die Rückgabe mit einer schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder die Rückführung das Kind in eine unzumutbare Lage bringt.

Einstufung der gesamten Ukraine als Kriegsgebiet

Dieser Ausnahmetatbestand ist nach der Entscheidung des Senats im vorliegenden Fall einschlägig. Die Rückführung des Kindes in die Ukraine sei mit einer schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden. Nach Auffassung des OLG ist das gesamte Staatsgebiet der Ukraine seit dem 24.2.2022 als Kriegsgebiet einzustufen. Dies ergebe sich ohne weiteres aus der aktuellen Medienberichterstattung als auch aus der Reisewarnung des Auswärtigen Amtes, die für die gesamte Ukraine gelte.

Lebensgefahr für das Kind auch in Odessa

Nach Ansicht des OLG gilt dies auch für das Gebiet der West-Ukraine einschließlich Odessa. Nach der aktuellen Lage seien kriegerische Handlungen in Odessa keinesfalls ausgeschlossen. Die damit verbundene Gefahrenlage setze das Kind im Falle einer Rückkehr unzumutbaren Gefährdungen für Leib und Leben aus.

Keine Ersatzrückführung in die Republik Moldau

Auch die hilfsweise vom Vater beantragte Rückführung in die Republik Moldau kommt nach Auffassung des OLG nicht in Betracht. Für eine solche Rückführung biete das HKÜ keine Grundlage. Die Gerichte in der Republik Moldau seien für eine Aufenthaltsentscheidung nicht zuständig. Das HKÜ sehe Rückführungen nur in den Staat vor, in dem umgehend eine gerichtliche Sorgerechts- und Aufenthaltsentscheidung betreffend das Kind ergehen könne. Zuständig für solche Entscheidungen seien ausschließlich Gerichte im Heimatstaat Ukraine. Für eine Rückführung in das nahe gelegene Moldau existiere keine Rechtsgrundlage.

Entscheidung rechtskräftig

Die Entscheidung des OLG ist nicht anfechtbar und damit rechtskräftig.

(OLG Stuttgart, Beschluss v. 13.10.2022, 17 UF 186/22)


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