EGMR verurteilt Deutschland erneut wegen unfairem Strafprozess

Erneut hat der EGMR Deutschland wegen unfairer Führung von Strafprozessen verurteilt. Nach unrechtmäßiger Verurteilung trotz Tatprovokation durch einen V-Mann wurde zwei zuvor Inhaftierten Entschädigungsansprüche zugesprochen - peinliches Urteil des EGMR für die Bundesrepublik Deutschland, die sonst oft auf Rechtsstaatlichkeit pocht.

Das Urteil des EGMR ist eine empfindliche Zurechtweisung nicht nur für die Bundesrepublik sondern auch für das BVerfG - und es ist nicht die erste. Zum wiederholten Mal hat der EGMR festgestellt, dass Straftäter zu Unrecht zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, nachdem ein sogenannter „Agent Provokateur“ die Täter durch unfaire Methoden zu einer Straftat provoziert hatte.

V-Mann wirkte 18 Monate auf den späteren Täter ein

Im konkreten Fall hatte ein V-Mann, der für die Kriminalpolizei arbeitete, auf den späteren Täter permanent über die Dauer von ca. 18 Monaten eingewirkt, um diesen zur Beschaffung von Heroin zu bewegen. Der Haupttäter erklärte immer wieder, er wolle und könne einen solch gefährlichen Stoff nicht besorgen. Cannabis oder Kokain könne er jederzeit beschaffen, nicht aber so ein „Dreckszeug“ wie Heroin.

100 Kilo Kokain auf Drängen des V-Manns geordert

Die permanente Einwirkung auf den späteren Täter durch den V-Mann hatte dann noch insoweit Erfolg, als der Täter auf Drängen des V-Manns eine für seine Verhältnisse außergewöhnlich große Menge Kokain – ca. 100 kg – orderte. Bei der Empfangnahme wurde er gemeinsam mit einem Mittäter von der Polizei festgenommen.

Wie die Gerichte später feststellten, entsprach diese Menge an Rauschgift in keiner Weise dem üblichen „Geschäftsgebaren“ des Betroffenen und war in dieser Menge im wesentlichen auf das ständige Drängen des V-Manns zurückzuführen.

Tatprovokation war rechtsstaatswidrig

Aufgrund dieser Taten wurden Haupt- und Mittäter zu Freiheitsstrafen verurteilt, die sie auch verbüßten. Der BGH bestätigte die Urteile. Die Gerichte kamen zu dem Ergebnis, dass der Tatentschluss des Haupttäters durch den V-Mann auf rechtsstaatswidrige Weise provoziert worden war. Diesen Umstand berücksichtigen die Gerichte im Rahmen der Strafzumessung zugunsten der Täter. Der Haupttäter wurde infolgedessen „nur“ zu einer Haftstrafe von vier Jahren und fünf Monaten verurteilt.

Verfassungsbeschwerde blieb ohne Erfolg

Gegen ihre Verurteilung gingen beide Täter mit der Verfassungsbeschwerde vor. Das BVerfG schloss sich der Beurteilung der Instanzgerichte an und bewertete das permanente Einwirken durch den V-Mann auf den Haupttäter als ein unrechtmäßiges, nicht rechtsstaatliches Verhalten. Das Verhalten verstieß nach Auffassung der höchsten deutschen Richter u.a. gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK.

Nach Auffassung des BVerfG hat ein solcher Verstoß aber nicht die komplette Verwirkung des Strafanspruchs des Staates zur Folge, vielmehr genüge es rechtsstaatlichen Grundsätzen, wenn der Verstoß gegen das Gebot der Fairness - wie geschehen - bei der Strafzumessung zugunsten des Täters berücksichtigt werde (BVG, Beschluss v. 18.12.2014, 2 BvR 209/14).

EGMR verurteilt Bundesrepublik zu Schadenersatz

Nachdem der Haupttäter verstorben war rief seine Ehefrau den EGMR an. Dieser verurteilte nun die Bundesrepublik Deutschland zur Zahlung einer Schadenersatzsumme an die Beschwerdeführerin in Höhe von 18.000 EUR sowie an den Mittäter in Höhe von 4.190 EUR. Der EGMR bewertete die Verurteilung durch die Strafgerichte als unrechtmäßig, da sie auf einem eklatanten Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK beruhe.

Verdeckte Ermittler müssen sich bezüglich der Straftat passiv verhalte

Verdeckte Ermittlungsmaßnahmen durch sogenannte V-Leute seien nur zulässig, soweit der verdeckte Ermittler sich passiv verhalte. Schlage die Tätigkeit des verdeckten Ermittlers in ein aktives Verhalten, insbesondere in eine Beihilfe oder gar Anstiftung um, oder beeinflusse er den Täter so stark, dass dieser zu einer Straftat verleitet wird, die er sonst nicht begangen hätte, so verlasse er den Grundsatz des rechtsstaatlichen und fairen Verhaltens.

Verfahrensverstoß führt zu Beweisverwertungsverbot

Im konkreten Fall bewertete der EGMR das Verhalten des „Agent Provokateur“ als Anstiftung. Die dadurch gewonnenen Beweise seien unrechtmäßig erlangt. Daher bestehe ein Verwertungsverbot. Die Verurteilung aufgrund solcher Beweise verstoße als solche ebenfalls gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens (EGMR, Urteil v. 15.10.2020, Nr. 40495/15).

Jetziges Urteil wiederholt Rüge gegen die Bundesrepublik aus dem Jahr 2014

Zu diesem Ergebnis kam der EGMR bereits im Jahre 2014, als er einem ebenfalls wegen Drogenhandels zu fünf Jahren Haft verurteilter Beschwerdeführer bestätigte, dass das gegen ihn gerichtete Strafverfahren nicht fair verlaufen sei. Auch die damalige Verurteilung war auf eine unrechtmäßige Tatprovokation gestützt. Der EGMR sprach dem Beschwerdeführer seinerzeit eine Entschädigung von 8.000 Euro sowie einen Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen in Höhe von 8.500 Euro zu (EGMR, Urteil v.23.10.2014, Nr. 54648/09). 

Deutsche Richterbund schlug in 2017 gesetzliche Regelung vor

Die deutschen Strafrechtler fordern aufgrund dieser Urteile ein Handeln des Gesetzgebers. Bereits im Jahre 2017 hat die große Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes ein Gutachten zum Thema „Vertrauenspersonen und Tatprovokation“ vorgelegt. Der DRB schlägt darin eine einheitliche gesetzliche Regelung zu V-Personen und Informanten vor. Nach den Vorschlägen soll eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation zu einem von Amts wegen zu beachteten Verfahrenshindernis und zu einem Beweisverwertungsverbot führen können. Diese Rechtsfolgen sollen aber nicht zwingend sein, sondern je nach Schwere des Verstoßes im Einzelfall durch Abwägung ermittelt werden.

Handeln des Gesetzgebers ist überfällig

Daneben soll die rechtsstaatswidrige Tatprovokation auf der Rechtsfolgenebene (Strafzumessung) berücksichtigt werden können. Die Kommission schlägt konkret vor, in § 49 StGB (besondere gesetzliche Milderungsgründe) einen Absatz einzufügen, in dem bestimmt wird, dass

im Falle einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation das Gericht die Strafe nach seinem Ermessen mildern oder von Strafe absehen

kann. Das Bundesjustizministerium hat diesen Vorschlag zwar aufgenommen, ob er in ein Gesetzgebungsverfahren mündet, ist aber noch nicht absehbar. Angesichts der kritischen Urteile des EGMR ist eine gesetzliche Regelung des Problemkreises verdeckte Ermittlungen und V-Leute überfällig.