Die Bahn muss geschlechtsneutral ansprechen

Das OLG Frankfurt hat die Berufung gegen die Verurteilung der Vertriebstochter der Bahn zur Unterlassung der binären Anrede nicht-binärer Personen als unzulässig verworfen. Damit verbleibt es bei der Verpflichtung der Bahn zur Einführung einer nicht-binären Anredeform.

Nach eigener Aussage der Bahn bedeutet die Verurteilung der Vertriebstochter zur Umstellung der bisher verwendeten binären Geschlechteranrede auf eine angemessene Anredeform auch gegenüber nicht-binären Personen erhebliche Kosten und einen hohen Verwaltungsaufwand.

Geburtsurkunde „ohne Angabe“ beim Geschlechtseintrag

Die klagende Partei des erstinstanzlich vor dem LG geführten Rechtsstreits besitzt eine nicht-binäre Geschlechtsidentität. In ihrer Geburtsurkunde befindet sich unter der Rubrik „Geschlechtseintrag“ seit Oktober 2019 der Vermerk: „ohne Angabe“.

Bahn kennt bisher nur „männlich“ oder „weiblich“

Die klagende Partei störte sich an der von der Bahn bzw. deren Vertriebstochter gegenüber ihr gebrauchten Anrede. Die klagende Partei ist Inhaberin einer „BahnCard“ und war bisher, im Rahmen der hierzu hinterlegten Daten gezwungen, zwischen den Anreden „Herr“ oder „Frau“ zu wählen. Auch beim von der Vertriebsgesellschaft der Bahn organisierten Online-Fahrkartenverkauf ist die Wahl einer geschlechterbezogenen Anrede (männlich oder weiblich) zwingend.

Außergerichtlicher Kampf um nicht-binäre Anrede erfolglos

Die klagende Partei versuchte über mehrere Monate durch schriftliche Eingaben und persönliche Vorsprachen bei der Bahn zu erreichen, dass ihr eine spezifische, nicht-binäre Anredeform seitens der Bahn angeboten wird. Da dieses Unterfangen zu keinem Erfolg führte, reichte die nicht-binäre Person schließlich Klage beim zuständigen LG gegen die Vertriebsgesellschaft der Bahn ein und rügte die Verletzung des Diskriminierungsverbots seitens der Bahn.

Bahn befürchtet unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand

Die beklagte Vertriebsgesellschaft der Bahn vertrat vor Gericht den Standpunkt, der Zwang zur Entscheidung zwischen den Anredemöglichkeiten „Herr“ oder „Frau“ sei für den betroffenen, nicht zu einem dieser beiden Geschlechter gehörenden Personenkreis, zwar möglicherweise unbefriedigend aber nicht wirklich diskriminierend. Die von der Bahn benutzte Anredeform beruhe auf einer Art Gewohnheitsrecht. Eine gerichtlich erzwungene Umstellung auf auch nicht-binäre Anredeformen sei unverhältnismäßig, da sie nach vorläufigen Berechnungen Verwaltungskosten in Höhe von ca. 3 Millionen Euro verursachen und einen Zeitraum von eineinhalb bis zwei Jahren in Anspruch nehmen würde.

Ausschließlich binäre Anredeoptionen sind diskriminierend

Die Argumente der Bahn überzeugten das erstinstanzlich mit der Sache befasste LG nicht. Das LG bewertete die nicht geschlechtergerechte Anredeform als geschlechtsbezogene Diskriminierung der nicht-binären klagenden Partei und damit als Verstoß gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Der klagenden Partei stehe daher ein Anspruch auf Unterlassung der binären Anrede gemäß §§ 21 Abs. 1 Satz 2 AGG in Verbindung mit §§ 19, 3, 1 AGG zu.

Die Bahn hat für die Umstellung sechs Monate Zeit

Das LG gestand der Bahn allerdings zu, dass die Umstellung auf eine angemessene Anrede nicht-binärer Personen organisatorisch einen gewissen zeitlichen Vorlauf benötigt und billigte der Beklagten hierfür eine Frist von einem halben Jahr zu, um die ungerechtfertigte Diskriminierung zu beenden.

Kein Anspruch auf Geldentschädigung

Den von der klagenden Partei gelten geltend gemachten Anspruch auf Zahlung einer Geldentschädigung für die erlittene Diskriminierung lehnte das LG allerdings ab. Ein solcher Zahlungsanspruch komme gemäß § 21 Abs. 2 Satz 3 AGG zwar grundsätzlich in Betracht. Die hierzu gebotene Abwägung zwischen der Schwere des Fehlverhaltens der Beklagten und der Intensität der Rechtsverletzung gegenüber der klagenden Partei führt nach Auffassung des LG im Hinblick auf die nur geringen, von der klagenden Partei erlittenen Beeinträchtigungen nicht zur Notwendigkeit einer Geldentschädigung.

Bahn muss Anrede auf Online-Plattform und in Formularen umstellen

Gegen das Urteil des LG hatten beide Parteien Berufung eingelegt. Nachdem die klagende Partei ihre Berufung zurückgenommen hat, hat das OLG die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen, weil die Beklagte die Berufungsfrist des § 517 ZPO nicht gewahrt hat. Formal ist der Verwerfungsbeschluss noch nicht rechtskräftig, da er mit der Rechtsbeschwerde beim BGH noch angefochten werden kann. Im Ergebnis dürfte es jedoch bei der Unterlassungsverpflichtung der Vertriebsgesellschaft der Bahn bleiben. Künftig werden also auch nicht-binäre Bahnkunden sowohl auf der IT-Plattform der Bahn als auch im Schriftverkehr und auf Formularen geschlechtergerecht angesprochen werden.


(OLG Frankfurt, Beschluss v. 14.4.2022, 9 U 84/21; LG Frankfurt, Urteil v. 26.8.2021, 2-30 O 154/20)


Hintergrund

Neben dem im Grundgesetz in Art. 3 GG verankerten Diskriminierungsverbot enthält das AGG in Umsetzung der verschiedenen europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien seit dem Jahr 2006 zentrale Regeln zum Schutz vor Diskriminierung aus rassistischen Gründen, wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion, der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität unter anderem durch Arbeitgeber, Vermieter und Anbieter von Waren und Dienstleistungen.

Zentrale Vorschriften zur Geschlechterbenachteiligung im AGG

Gemäß § 19 AGG ist unter anderem die Geschlechterbenachteiligung beim Abschluss zivilrechtlicher Schuldverhältnisse grundsätzlich unzulässig. Gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 AGG kann der Benachteiligte bei einem Verstoß die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen und gemäß § 21 Abs. 1 Satz 2 AGG bei der Gefahr weiterer Beeinträchtigungen auf Unterlassung klagen. Gemäß § 21 Abs. 2 AGG steht dem Benachteiligten grundsätzlich ein Anspruch auf Schadenersatz und hinsichtlich seines immateriellen Schadens ein Anspruch auf eine angemessene Entschädigung in Geld zu.

Auch im Onlinehandel Pflicht zu einer nicht-binären Anredeform

Im Onlinehandel ist die binäre Anredeform noch überwiegend gebräuchlich. Gerade dort dürften sich die Anredeoptionen auf absehbare Zeit aber ändern, denn auch andere Gerichte scheinen in der ausschließlich binären Anrede eine Diskriminierung nicht-binärer Personen zu sehen. So hat auch das OLG Karlsruhe das Verhalten einer Online-Verkaufsplattform im Textilbereich, die lediglich die Anreden „Herr“ oder „Frau“ zur Auswahl stellte, als Diskriminierung nicht-binärer Personen bewertet. Auch das OLG Karlsruhe hat in seinem Urteil allerdings einen Anspruch auf Entschädigung in Geld abgelehnt, da der Grad des Verschuldens der beklagten Onlineplattform gering sei und diese im Laufe des Verfahrens die Anredemöglichkeiten auf ihrer Plattform um die Option „divers“ erweitert hatte (OLG Karlsruhe, Urteil v. 14.12.2021, 24 U 19/21).

Auch Strafgefangene haben Anspruch auf nicht-binäre Anrede

Das OLG Saarbrücken hat das Saarland dazu verurteilt, für eine in Haft befindliche, weder männliche noch weibliche Person auf Ausdrucken und Bescheinigungen der Haftanstalt das Geschlecht „divers“ einzutragen. Auch hier hatte die Haftanstalt sich vergeblich mit dem Argument gesträubt, eine Umstellung der bisher gebräuchlichen Rubriken männlich/weiblich sei mit einem unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand verbunden. Das OLG sah in der Weigerung der Haftanstalt einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 GG (OLG Saarbrücken, Beschluss v. 16.11.2020, - Vollz (Ws) 10/20).

Genderstern ist keine Diskriminierung

Nach einer Entscheidung des LAG Schleswig-Holstein stellt die Verwendung des Gendersternchens in einer Stellenausschreibung keine Diskriminierung mehrgeschlechtlich geborener Personen dar. Das Gendersternchen diene vielmehr einer geschlechtersensiblen und diskriminierungsfreien Sprache (LAG Schleswig-Holstein, Beschluss v. 22.6.2021, 3 Sa öD/21).


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