Das antisemitische Wittenberger Kirchenrelief

Auch das Oberlandesgericht Naumburg hat das antisemitische Schmährelief an der Stadtkirche St. Marien in Wittenberg als eine Nicht-Beleidigung durchgewunken und mit den Mitteln des Denkmalschutzes verteidigt. Es bleibt dabei, dass das alte judenfeindliche Relief von der Gemeinde nicht zu entfernen ist. Vor den aktuellen antisemitischen Tendenzen kein schönes Signal.

Das OLG argumentiert, ebenso wie die Vorinstanz, das "Judensau"-Relief sei keine Beleidigung mehr, wenn man es zusammen mit der Gedenkplatte, die auf den Völkermord an den Juden im Dritten Reich verweist und der Stele betrachte, die später hinzugefügt wurde. Damit genieße der Denkmalschutz die höhere Priorität.

Keine in Stein gemeißelte Beleidigung, sondern eine Kombi-Gedenkstätte?

Das Relief sei durch die schrittweise hinzugefügten Gedenksteine Teil eines Ensembles der Erinnerungskultur an der Stadtkirche. Das überzeugt, zumal in der aktuellen, von wachsenden Antisemitismus geprägten gesellschaftlichen Situation auch nicht alle Juristen.

Volker Boehme-Neßler hält auf "Zeit Online" dagegen. Er betont nicht nur, dass Gerichte auch eine gesellschaftliche Verantwortung haben.  Er teilt auch juristisch nicht die Folgerung, wonach keine Beleidigung vorliege und verneint das Ensemble-Argument mit dem Hinweis, dass die feinsinnige Gedenkplatte gegen das "schrille, wilde Bild mit einer extremen, obszönen Szene" nicht ankomme: 

Wenn solch ein Machwerk, das in analen und fäkalen Fantasien schwelgt, keine Beleidigung sein soll – was dann? Haben die Richter das Relief überhaupt gesehen? Kennen sie nicht die lange politische Geschichte dieses abgrundtief antisemitischen Bildmotivs?

"Judensau" als steinerne Beleidigung am UNESCO Welterbe

Mit dieser Einschätzung steht er nicht allein. Ein Mitglied der jüdischen Gemeinde in Berlin störte sich seit längerem an einem judenfeindlichen Relief an der Stadtkirche St. Marien, die das älteste Gebäude der Lutherstadt Wittenberg ist und zu den UNESCO Welterbestätten zählt. Das Relief sei Ausdruck und Sinnbild für den in der deutschen Staats- und Kirchengeschichte tief verwurzelten Antisemitismus. Er forderte von der Kirchengemeinde und der Stadt, das Relief abzunehmen und klagte nach deren Weigerung auf Entfernung des Reliefs.

Mittelalterliches „Hate Speech“ seit über 700 Jahren an der Kirchenwand

Stein des Anstoßes ist die auf dem Relief gezeigte Darstellung einer großformatigen Sau, an deren Zitzen Menschenkinder saugen. Die Kinder tragen Spitzhüte, die sie als Juden ausweisen. Am Hinterteil der Sau ist die Figur eines Rabbiners abgebildet, der der Sau unter den Schwanz und in den After blickt. In das Relief ist die hebräische Aufschrift „Schem Ha Mphoras“ gemeißelt, dies bedeutet soviel wie „Der besondere Name“ und ist eine jüdische Umschreibung des Gottesbegriffs. Das Relief befindet sich an der Kirchenwand seit über 700 Jahren und ist damit Bestandteil der historischen Stadtkirche, die insgesamt unter Denkmalschutz steht

Neu angebrachte Stele erläutert den historischen Kontext

Im Jahr 1988 ließ die Kirchengemeinde unterhalb des Reliefs eine Bodenplatte anbringen, die auf den Völkermord an den Juden im Dritten Reich verweist. Mitte 2017 kam eine Stele mit deutschem und englischem Text dazu, der den historischen Kontext der Skulptur erklärt und darüber hinaus auf den Antisemitismus Luthers und die verabscheuungswürdigen Judenverfolgungen in Sachsen hinweist.

Historische Erläuterungen beseitigen die Schmähung nicht

Trotz der angebrachten historischen Bezugnahmen sah der Kläger in der Skulptur eine Beleidigung der Juden und des jüdischen Glaubens. Historische Erläuterungen einer Beleidigung führen nach Auffassung des Klägers nicht zu deren Beseitigung.

Angehörige der jüdischen Religion würden durch das Schmähbild auch heute noch verhöhnt. Ein Schwein sei nach jüdischen Glauben ein unreines Tier.

Im Mittelalter hätten solche Spottbilder dazu gedient, Juden davon abzubringen, sich in einer Stadt niederzulassen. Im  Nationalsozialismus sei auch infolge solcher Darstellungen der Begriff „Judensau“ gesellschaftsfähig geworden.  Entsprechende Abbildungen wurden auch "später verbreitet, etwa ganz regelmäßig vom Nazihetzblatt "Der Stürmer"

Ein solches Relief habe im öffentlichen Raum an einer Kirche auch heute nichts zu suchen.

Gerichte betonen den historischen Charakter

Diese Auffassung stieß schon beim Landgericht (LG Dessau Roßlau, Urteil v. 24.5.2019, 2 O 230/18)nur auf begrenztes Verständnis. Es bewertete das Relief in erster Linie unter historischen Gesichtspunkten. Ein 700 Jahre altes Relief könne nicht als aktuelle Kundgabe der Nichtachtung oder Missachtung gegenüber Juden in Deutschland betrachtet werden. Die Kirchengemeinde Wittenberg habe sich durch die angebrachten historischen Erläuterungen klar von dem Inhalt des Reliefs distanziert. Für den Schmähinhalt des Reliefs könne die heutige Gemeinde nicht verantwortlich gemacht werden.

Historie lässt sich nicht einfach entsorgen

Historie sei nun mal Historie und könne nicht ohne weiteres entsorgt werden. Insoweit komme dem Relief ein gewisser historischer Wert und damit auch ein Lernwert für heutige Generationen zu. Die Kirche selbst habe durch die angebrachten historischen Erläuterungen das ihr Mögliche getan, um die mit dem Relief verbundenen Beleidigungen der jüdischen Religion als vergangene, ungute Historie deutlich werden zu lassen.

Dieser Ansicht folgte nun auch das OLG Naunburg. Auch in dieser Instanz sah man aufgrund der Erklärtafel mit einordnenden Erläuterungen keinen beleidigenden Charakter mehr).

(OLG Nauburg, Urteil v. 4.2.2020, 9 U 54/19).

Hintergrund: Bleibt Wittenberg stur?

Irmgard Schwaetzer, Präses der evangelischen Kirche in Deutschland, riet der Kirchengemeinde schon nach dem LG-Urteil, die Skulptur freiwillig aus dem Mauerwerk zu entfernen und in ein eigenständiges Mahnmal, gegebenenfalls in der Nähe der Kirche, zu integrieren. Sowohl die evangelische Kirche als auch die Stadt Wittenberg haben eine dahingehende Bereitschaft bisher nicht erkennen lassen, diskutieren das Thema aber offensichtlich noch.

Wie tief sitzen antisemitische Reflexe heute noch?

Die aktuellen u.a. antisemitischen Attentate in Halle werfen ein neues Schlaglicht auf den Wittenberger Fall. Das Bildmotiv „Judensau“ war im Mittelalter eine der am meisten verbreiteten Schmähungen gegen das Judentum.

Auch heute noch finden sich nach einer Meldung von „domradio.de“ auf deutschem Boden an rund 30 evangelischen und katholischen Kirchen in Deutschland entsprechende Darstellungen, unter anderem an dem 700 Jahre alten Chorgestühl des Kölner Doms und an einem Säulenkapitell im Kreuzgang des Doms in Brandenburg an der Havel.

Diese Darstellungen zeigen, wie tief antisemitische Reflexe in der deutschen Geschichte und vor allem auch in der Kirchengeschichte verwurzelt sind und wie wenig Bereitschaft auch heute noch vorhanden ist, solche Reflexe endgültig auszumerzen. Besonders paradox: Der Namensgeber der christlichen Religion war Zeit seines irdischen Lebens nie etwas anderes als ein Jude.

Der Fall könnte noch bis zum EuGH gehen

Das LG hatte an der rechtlichen Einordnung des Falls offensichtlich selbst gewisse Zweifel. Insbesondere die Frage, was eine Kirche heute noch tun muss, um sich von geschichtlich weit zurückliegenden Hassbotschaften zu distanzieren, sah das Gericht als juristisch bisher nicht eindeutig geklärt an. Daher ließ das LG ausdrücklich die Berufung gegen das Urteil zu. Auch das OLG ließ eine Revision vor dem Bundesgerichtshof zu. 

Der 77-jährige Kläger hat bereits angekündigt, notfalls auch den EuGH anzurufen. Aber vielleicht lenken die evangelische Kirche und die Stadt Wittenberg ja doch noch vorher ein. Es wäre ein Zeichen für den echten Willen zur Versöhnung der Religionen.