Colours of law: Fehlt es deutschen Strafrichtern an Kreativität?

Im Vergleich mit den USA könnte man deutschen Richtern fehlende Phantasie bescheinigen. Dort hat sich ein starker Trend zu kreativen Strafurteilen herausgebildet, der allerdings nicht immer mit dem deutschen und europäischen Verständnis von Menschenwürde korreliert.

Ein Blick über den Tellerrand des deutschen Rechts kann durchaus geeignet sein, eingefahrene Bahnen zu überdenken und manchmal auch zu verlassen. Einen solchen Blick ist die derzeit in den USA vermehrt um sich greifende Praxis der Strafrichter wert, bei der Verhängung und Erfindung neuer Strafen besonders kreativ zu sein.

Angesichts der überfüllten Gefängnisse in den meisten US-Staaten - ein Problem, das auch in Deutschland nicht unbekannt ist - und der Vollzugskosten der Gefängnisse von jährlich über 80 Milliarden US-Dollar bestärkt der oberste Gerichtshof der USA die Gerichte schon seit dem Jahr 2005 darin, bei der Verhängung von Strafen kreativ zu sein und möglichst häufig von Gefängnisstrafen abzusehen.

Creative sentencing

Das ließen sich einige US-Richter nicht zweimal sagen. Einer der bekanntesten „Kreativen“unter den US-Richtern ist der seit über 22 Jahren in Painesville im US-Bundesstaat Ohio tätige Richter Michael Cicconetti. Er hat sich darauf spezialisiert, Strafen auf das Tatgeschehen zuzuschneiden („creative sentencing“) und hat einige Aufsehen erregende Entscheidungen getroffen.

  • Eine Dame hatte einen Taxifahrer geprellt, der sie zuvor über eine Strecke von 30 Meilen chauffiert hatte. Der Richter fragte die Delinquentin im Prozess, wie sie denn sonst ihr Ziel hätte erreichen können. Antwort: „Zu Fuß“. Urteil: 30 Meilen Fußmarsch verteilt auf zwei Tage, dazu vier Monate Freiheitsstrafe auf Bewährung.
  • Einen unter Alkoholeinfluss fahrenden Autofahrer schickte der Richter in eine Leichenhalle, wo er sich die Opfer von Verkehrsunfällen ansehen musste.
  • Einen Täter, der Polizisten als Schweine beschimpfte, verdonnerte er dazu, sich mit einem 350 kg schweren Schwein vor eine Polizeistation zu stellen und dabei ein Transparent mit der Aufschrift hochzuhalten „Das ist kein Polizist“
  • Eine Frau hatte einen Mann zu Unrecht mit Pfefferspray angegriffen. Urteil: Die Frau hatte die Wahl zwischen 30 Tagen Haft oder dem Zulassen einer Racheaktion des Opfers. Die Frau entschied sich für die Racheaktion. Das Opfer durfte noch im Gerichtssaal mit einer Pfefferspraydose auf die Täterin losgehen und diese besprühen. Allerdings hatte der Richter vorher dafür gesorgt, dass die Dose nur mit einer harmlosen Flüssigkeit gefüllt war. Es ging dem Richter um das Erleben des Schreckens eines solchen Angriffs.
  • Ein Jugendlicher, der zu laut Musik gehört hatte, wurde zu einem Tag Stillsitzen im Wald verurteilt.
  • Eine Frau, die 35 kleine Katzen im Wald ausgesetzt hatte, musste eine ganze Nacht im Wald verbringen, und zwar ohne Regenschutz.
  • Einen Betrüger, der zu Unrecht für die Heilsarmee sammelte, verdonnerte der Richter dazu, sich einen Tag lang wie ein Obdachloser auf der Straße aufzuhalten. 

Angeblich geringe Rückfallquote

Cicconetti ist davon überzeugt, dass seine Urteile mehr nutzen als die einfallslose Verhängung von Strafhaft. Er habe die Erfahrung gemacht, dass über 90 % der so Bestraften nicht wieder rückfällig würden, die Rückfallquote liege ansonsten bei über 70 %. Der Richter ist sich durchaus bewusst, dass auch in den USA ein Verfassungsgrundsatz grausame und unverhältnismäßige Strafen („cruel and unusual punishments“) verbietet. Er hält aber gerade seine Art der Bestrafung für weniger grausam als Strafhaft. Dies hätten ihm auch seine Verurteilten bestätigt. Der Täter, der mit dem Schwein vor der Polizeistation stehen musste, sei inzwischen ein guter Bekannter, der mit ihm häufiger mal zu Mittag esse. Ob es dazu dann Schweineschnitzel oder Schweinshaxe gibt, hat der Richter allerdings nicht verraten.

Schandurteile – „shaming punishments“

Möglicherweise gibt das Ergebnis Richter Cicconetti teilweise recht. Andere Richter gehen allerdings weit über dessen Praxis hinaus. Zweifelhaft sind insbesondere die Schand- und Prangerurteile. Die US Richterin Pinkey Carr gelangte zu zweifelhaftem Ruhm, als sie eine Delinquentin dazu verdonnerte, sich mit einem Transparent auf den Gehweg neben eine Schule zu stellen mit der Aufschrift

„Nur ein Idiot würde auf den Gehweg fahren, um einen Schulbus zu überholen“ .

Genau das hatte die Delinquentin nämlich getan. In einem anderen Fall musste ein Drogenabhängiger in seiner Wohnung im eigenen Sarg schlafen. In Texas wurde ein Kinderschänder, der ein Kind in einer Hundehütte übernachten ließ, dazu verdonnert, seinerseits 30 Nächte hintereinander in einer Hundehütte zu übernachten.

In Deutschland zieht die Menschenwürde etwas engere Grenzen

In Deutschland wären Strafen nach Art der amerikanischen Schand- oder Prangeruteile schon im Hinblick auf die nach dem Grundgesetz und der MRK geschützte Menschenwürde nicht möglich.

Damit ist aber nicht jeder Art von Kreativität bei Urteilen ausgeschlossen. Im Jugendstrafrecht sind die Möglichkeiten der Richter durch Erteilung von Auflagen und Weisungen relativ weit. Aber auch im Erwachsenenstrafrecht kann der Richter, wenn er eine Freiheitsstrafe verhängt, die zur Bewährung ausgesetzt wird, den Bewährungsbeschluss mit Auflagen gemäß §§ 56b, 56c StGB versehen, die thematisch mit der Straftat in Verbindung stehen. Allerdings darf durch solche Auflagen ein Täter nicht bloßgestellt und nicht öffentlich an den Pranger gestellt, seine Menschenwürde und seine Persönlichkeitsrechte dürfen nicht verletzt werden.

Mehr Kreativität wäre auch in Deutschland möglich

Auch nach deutschem Recht sind im Sinne der Genugtuung und der Spezialprävention also Auflagen in enger Beziehung zur Thematik der Straftat möglich. Ob davon in der Praxis in Deutschland hinreichend kreativ Gebrauch gemacht wird, erscheint im Hinblick auf die Beispiele aus den USA zumindest fraglich. So mancher Straftäter könnte durch stärkere Konfrontation mit dem von ihm begangenen Unrecht vielleicht zu etwas mehr Einsicht gebracht werden. Da ginge auch unter Beachtung der Menschenwürde der Betroffenen wohl auch in Deutschland noch etwas mehr.

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