Colours of law: Eskalation im Klassenzimmer

Das AG Neuss verurteilte einen Musiklehrer wegen Freiheitsberaubung, weil er seine Schüler nachsitzen ließ. Mit seiner Gitarre hatte der Lehrer sich vor die Klassentür gesetzt und den Ausgang für Schüler, die ihre Arbeit noch nicht erledigt hatten, blockiert.

Nicht immer gelingt einem Lehrer eine Schulstunde wie geplant. Dies war früher schon so und wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Spielten die Schüler verrückt und stellten sich quer, waren die erlaubten Erziehungsmethoden vor nicht allzu langer Zeit allerdings andere als heute. Körperliche Züchtigungen sind zum Glück heute nicht mehr erlaubt. Angesichts der Schwierigkeiten vieler Lehrer mit mangelnder Disziplin ihrer Schüler, stellt sich allerdings die Frage, ob der Gesetzgeber nicht übers Ziel hinausgeschossen ist, wenn ein knapp fünfminütiges Nachsitzenlassen von Schülern bereits als kriminelle Handlung des Lehrers gewertet wird.

Musiklehrer greift durch

Der Musiklehrer Phillip Parusel unterrichtet an einer Neusser Realschule und ist dort als engagierter und herzlicher und keinesfalls als autoritärer Lehrer bekannt. So bewerten ihn jedenfalls ein Großteil seiner Schüler und auch der Rektor der Schule. Als der Musikunterricht allerdings einmal gar nicht so lief, wie der Lehrer sich das vorgestellt hatte und die Schüler den Unterricht wiederholt durch das Abspielen eines Paganini-Geigenstücks störten, erteilte der Lehrer der sechsten Klasse die Weisung, einen Artikel über Paganini aus Wikipedia abzuschreiben. Der Lehrer selbst sah dies nach eigener Aussage nicht als disziplinarische Maßnahme an, sondern als einzige Möglichkeit, den Unterricht auf eine einigermaßen erträgliche Art fortzusetzen.

Erst abschreiben, dann rausgehen

Der Lehrer bestand allerdings darauf, dass die Schüler den Artikel vollständig abschrieben. Nur wer fertig war, durfte die Klasse verlassen. Der Lehrer setzte sich mit seiner Gitarre in den Türbogen des Klassenzimmers und ließ - so die Aussagen einiger Schüler - diejenigen, die mit dem Abschreiben noch nicht fertig waren, nicht nach draußen. Ein Schüler, der dennoch an dem Lehrer vorbei nach draußen wollte, stieß er zurück. Ein Klassenkamerad informierte darauf über sein Handy die Polizei.

Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung und Freiheitsberaubung

Die StA leitete gegen den Lehrer ein Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung und Freiheitsberaubung ein. In der vergangenen Woche stand der Richter wegen dieses Vorfalls vor dem Kadi. Der vierzehnjährige Schüler, der die Polizei gerufen hatte, erklärte vor Gericht, die Situation sei furchterregend gewesen. Der Lehrer habe mit Schlagzeugstöcken laut auf den Tisch gehauen und seinen Freund recht heftig in den Bauch gestoßen. Der Gestoßene selbst erklärte hierzu, er wisse nicht, ob der Stoß tatsächlich absichtlich gewesen sei, jedenfalls habe es nicht besonders wehgetan.

Schülermehrheit für ihren Lehrer

Zur Verhandlung erschienen viele Schüler des Lehrers, die sich größtenteils als Fans des Lehrers erwiesen und den Spruch „Free Phillip“ skandierten. Dies half dem Lehrer aber wenig. Zwar sah das Gericht eine Körperverletzung durch den Lehrer als nicht erwiesen an, da der Verletzte selbst den Stoß nur halbherzig bestätigte. Jedoch erkannte das Gericht auf vollendete Freiheitsberaubung, auch wenn diese nach dem Zeitpunkt des Mobilanrufs zu urteilen, nicht länger als 5 Minuten gedauert habe. Dennoch sei der Tatbestand erfüllt.

Lehrer muss jetzt selbst nachsitzen

Das Urteil fiel für das Delikt der Freiheitsberaubung dann aber doch eher milde aus. Das Gericht beließ es bei einer Verwarnung mit Strafvorbehalt. Dem Lehrer drohen damit 1.000 Euro Geldstrafe, falls er sich nicht im Umgang mit undisziplinierten Schülern weiterbildet, um für die Zukunft besser auf schwierige Situationen vorbereitet zu sein. Der Musiklehrer selbst äußerte, er sei für zusätzliche pädagogische Tipps durch einen Coach dankbar. Er ließ aber offen, ob er die Verurteilung als solche akzeptiert oder aber ein Rechtsmittel einlegt. Offen ist weiterhin, ob die Bezirksregierung gegen den Lehrer Disziplinarmaßnahmen einleiten wird.

Tatbestand der Freiheitsberaubung lässt Raum für Auslegung

Die Frage, ob die Verurteilung des Lehrers juristisch zwingend war, darf durchaus gestellt werden. Der Tatbestand der Freiheitsberaubung gemäß § 239 StGB ist vom bloßen Festhalten abzugrenzen. Die Einschränkung der Freiheit für einige Sekunden bedeutet in der Regel bloßes Festhalten, einige Minuten können aber schon als Freiheitsberaubung definiert werden. Entscheidend sind die Umstände des Einzelfalls, die im Fall des Lehrers Parusel durchaus auslegungsfähig sind.

Rechtfertigung als erzieherische Maßnahme nach dem SchulG NRW?

Eine Rechtfertigung des Verhaltens des Lehrers als erzieherische Maßnahme ist nach dem geltenden SchulG NRW zwar schwierig, aber nicht ausgeschlossen:

  • Nach § 53 Schulgesetz NRW darf ein Lehrer das Fehlverhalten von Schülern sanktionieren. Die Vorschrift listet Sanktionen wie Ermahnungen, Gruppengespräche, Ausschluss von einer laufenden Unterrichtsstunde und auch die Verhängung von Nacharbeit unter Aufsicht auf.
  • Bei der Anordnung einer Nacharbeit sind jedoch zwingend die Eltern zu informieren
  • und es ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten.
  • Die Unterrichtung der Eltern hatte Parusel unterlassen, wobei aber die Frage erlaubt sein muss, ob diese Unterrichtungspflicht für eine Nacharbeitszeit von knapp 5 Minuten verhältnismäßig ist.
  • In anderen Bundesländern ist die Frage teilweise anders geregelt. Nach Art. 86 Abs.1 BayEUG ist bei nicht hinreichender Beteiligung eines Schülers am Unterricht die Anordnung von Nacharbeit unter Aufsicht einer Lehrkraft grundsätzlich zulässig, in Sachsen als Erziehungsmaßnahme wohl ebenfalls (nicht ausdrücklich geregelt). Dort erscheint es zumindest nicht ausgeschlossen, dass die Nacharbeit unter Aufsicht auch ein kurzfristiges Festhalten im Klassenzimmer rechtfertigen könnte.  

Wenn die Schüler dem Lehrer auf der Nase herumtanzen

Der Vorsitzende Richter in Neuss hat während der Verhandlung die berechtigte Frage gestellt: „Was macht ein Lehrer, dem die Schüler auf der Nase herumtanzen?“. Die Frage ist berechtigt, wenn Lehrer sich bereits mit der kleinsten Zwangsmaßnahme in den Bereich der Kriminalität begeben. Immerhin ist der Schüler, der die Polizei gerufen hatte, in der Schule als aufmüpfig bekannt. Nach Aussagen des Schuldirektors hat er schon früher mehrfach „mit dem Anwalt gedroht“. Wenn die Drohung mit dem Anwalt als Damoklesschwert zur ständigen Waffe von Schülern gegen ihre Lehrer wird, dann sind Lehrer wirklich nicht mehr zu beneiden. Lehrer werden dann in heiklen Situationen geradezu zur Hilflosigkeit verurteilt.

(AG Neuss, Urteil v. 24.8.2016, 12 Ds 333/16)

 

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