Colours of law: Die Bedeutung des Zufalls in der Justiz

Gerechtigkeit ist ein hohes Gut. Richter urteilen unabhängig und sind allein Recht und Gesetz verpflichtet. Aber ist das wirklich immer so? Spielt nicht in Wahrheit auch in der Justiz der Zufall oft eine nicht unerhebliche Rolle? Ist das Recht nicht auch eine Frage von Glück oder Unglück?

"Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand". Diesen althergebrachten Spruch kennt jeder Jurist und hört ihn immer wieder. Und tatsächlich spielen Zufall und Glück auch vor Gericht oft eine gewichtige Rolle.

Ob Verkehrsunfall, Arbeits- oder Erbschaftsstreit - in der Regel hat derjenige vor Gericht die besseren Karten, der die besseren Beweismittel zur Verfügung hat. Nicht selten ist gerade dies aber eine Frage des Zufalls. Glück hat der, der für seine Schilderung vor Gericht glaubwürdige Zeugen auffahren kann.

Es gewinnt, wer (zufällig) die besseren Zeugen hat

Nicht selten spielen die Zeugen aber vor Gericht eine eher unrühmliche Rolle. Untersuchungen belegen, dass gerade in Verkehrsunfallsachen Zeugen häufig sehr subjektiv an die Sache herangehen.

Es ist belegt, dass Zeugen, die beispielsweise als Mitfahrer in einem Fahrzeug saßen, im Fall eines Verkehrsunfalls grundsätzlich dazu neigen, zu Gunsten „ihres“ Fahrers auszusagen, selbst wenn zu diesem keine unmittelbare persönliche Beziehung, wie beispielsweise zum Fahrer eines Taxis, bestand.

Richter sind in diesem Fall oft dankbar, wenn sie ihr Urteil auf eine klare Zeugenaussage stützen können und keine Gegenzeugen vorhanden sind, z.B. weil der andere Fahrer allein im Auto saß. Dass dies immer zu gerechten Ergebnissen führt, darf bezweifelt werden.

Wenn der Zufall endlich zur Hilfe eilt

Wie sehr die Entscheidung eines Gerichts vom Zufall abhängig sein kann, belegt ein Vorfall bei einem Fußballspiel in Innsbruck.

  • Ein neunzehnjähriger Fan lieferte sich nach dem Spiel ein Wortgefecht mit einem Polizisten. In der Folge wurde der Fan wegen versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt zu einer Geldstrafe verurteilt.
  • Der Polizist nahm den Verurteilten daraufhin nach dem Verbrechensopfergesetz auf Schadensersatz in Anspruch, weil er durch das Verschulden des Fans über eine Werbebande gefallen sei und sich hierdurch einen schweren Bandscheibenvorfall zugezogen habe.
  • Ein Gericht verurteilte den Fan zur Zahlung von 165.000 Euro Schadensersatz.

Erst Jahre später kam dem gebeutelten Fan ein Zufall zu Hilfe. Bei einer zufälligen Unterredung des Anwalts des Verurteilten mit einem Versicherungsagenten stellte sich heraus, dass dieser die Szene auf Video aufgenommen hatte. Darauf war zu sehen dass die Schilderung des Polizisten frei erfunden war.

Auch die Wahrheit ist immer relativ

Die kognitive Psychologie stützt die Erkenntnis, dass die Beurteilung von Situationen - ob im normalen Leben oder vor Gericht - immer aufgrund einer selektiven Verarbeitung von Informationen stattfindet und die Intuition (auch bei Richtern) hierbei immer eine bedeutende Rolle spielt.

Besonders die Gewichtung der Bedeutung von Informationen ist stark von dieser intuitiven Seite der Beurteilung abhängig. Eine grundsätzliche Schwierigkeit bei der Beurteilung besteht darin, dass insbesondere intellektuelle Menschen Probleme haben, den zufälligen Charakter von Ereignissen zu akzeptieren, zum Beispiel wenn dem einen Unfallbeteiligter zufällig drei Zeugen zur Seite stehen, dem anderen keine.

Die Bedeutung des Zufalls in der Justiz

In ihrem im Springer-Verlag erschienenen Werk „Recht, Zufall und der Rest der Welt“ haben die Autoren Stefan Kraus und Georg Bruckmaier den Einfluss des Zufalls auf gerichtliche Entscheidungen untersucht.

Unter anderem schildern sie dort einen Verkehrsunfall aus dem Jahr 1987, bei dem ein Porschefahrer als Geschädigter objektiv keinerlei Schuld an dem Unfallgeschehen hatte und deshalb vom LG und später auch vom BGH Recht bekam (BGH, Urteil v. 28.3.1989, VI ZR 232/88). Die Autoren kommen allerdings zu dem Schluss, dass der Porschefahrer mit über 99,99-prozentiger Wahrscheinlichkeit den Verkehrsunfall verursacht hat. Dies folgern sie daraus, dass der Fahrer in einem Zeitraum von 15 Monaten elf Unfälle erlitten hatte, vier davon an der gleichen Stelle wie bei dem vom BGH entschiedenen Unfall. Gemäß der nach dem englischen Mathematiker Thomas Bayes  benannten Wahrscheinlichkeitsformel errechneten die Autoren die mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit des alleinigen Verschuldens des Porschefahrers an dem Unfallereignis.

Richterliche Überzeugung und Wahrscheinlichkeit

Die Autoren folgern aus ihren Schilderungen das Erfordernis eine stärkeren Berücksichtigung von mathematischen Wahrscheinlichkeiten in Gerichtsurteilen. Der Bedeutung des Zufalls bei der Urteilsfindung müsse ein Riegel vorgeschoben werden. Der Großteil der Richterschaft lehnt eine Anwendung solcher Wahrscheinlichkeitsrechnungen ab vor dem Hintergrund, dass Urteile nicht auf Wahrscheinlichkeiten sondern auf der freien  Überzeugung des Gerichts von der Wahrheit beruhen. Kritisch könnte man die Frage stellen, ob bei dieser Auffassung nicht oft auch etwas Selbstbetrug über die vermeintliche Fähigkeit zur Objektivität mit am Werke ist.

Ganz ausschließen wird man die Rolle des Zufalls auch in der Justiz aber nie können. In den USA haben das einige erkannt und bauen den Zufall gelegentlich bewusst in die Entscheidungsfindung mit ein.

Wenn Anwälte Schere-Stein-Papier zu spielen

Nach dem Hurrikan Charley hatten sich in einem Schadenersatzprozess zwei Anwälte nicht auf einen Verhandlungsort über die Schadenersatzangelegenheit einigen können. Das angerufene Gericht in Florida entschied:

„Wenn die Anwälte sich nicht auf einen Ort festlegen können, haben sie sich auf den Stufen vor dem Gericht in der Innenstadt von Tampa zu treffen und dort eine Runde des Spiels Schere-Stein-Papier zu spielen. Der Gewinner hat das Recht, den Ort zu bestimmen“.

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Noch weiter gingen Polizeibeamte bei einem texanischen Musikfestival. Eine junge Frau hatte dort verbotenerweise Alkohol konsumiert. Damit war eigentlich wäre eigentlich eine Geldbuße fällig gewesen. Die Beamten boten der Frau eine Runde des bekannten Spiels „Schnick- Schnack-Schnuck“ an. Sollte sie gewinnen, bleibe ihr die Geldbuße erspart. Die Frau hat gewonnen. Die Beamten haben verloren, nicht nur das Spiel sondern fast auch ihren Job. Bei Musikfestivals werden sie nicht mehr eingesetzt.

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