Colours of law: Bagatelldiebstahl nicht strafbar?

Wie pingelig müssen Richter und Staatsanwälte bei der Verfolgung und Ahndung einer strafbaren Handlung sein? Existiert eine Art Schadensuntergrenze, bei deren Unterschreitung eine Tat nicht sanktionswürdig ist? Ein auch für Rechtsanwälte interessantes Thema.

Diese Frage haben die StA München und das AG München unlängst äußerst unterschiedlich beantwortet. Offenbar existiert in den Köpfen mancher Juristen eine Grenze der Pingeligkeit, bei anderen nicht. Im konkreten Fall ging es um ein 64 und 65 Jahre altes Rentnerehepaar, das durch Sammeln von Pfandflaschen die magere Rente etwas aufbessern wollte. Diese Art des Zusatzverdienstes gehört in den größeren Städten – und nicht nur da - für viele heute schon zum Alltag.

Anwohner verpetzen Flaschensammler bei der Polizei

Nicht so für die Anwohner einer Wohnstraße in München. Diese fühlten sich durch die Sammlertätigkeit des Rentnerehepaars, die in Glascontainern nach intakten Flaschen mit einem speziellen Greifarm stocherten, offenbar gestört und informierten telefonisch Polizei. Ob es sich bei den Petzen ebenfalls um Rentner handelte, die möglicherweise gerade nichts Besseres zu tun hatten oder einfach um missgünstige Zeitgenossen, ist nicht überliefert.

StA will hart durchgreifen

Die Polizei jedenfalls gab den Vorgang an die zuständige StA weiter. Diese überlegte nicht lange und beantragte gegen beide Ehepartner einen Strafbefehl wegen Diebstahls. Die Staatsanwaltschaft gründete den Diebstahlsvorwurf darauf, dass mit dem Einbringen von Altglas in die bereitgestellten Container das „Duale System Deutschland“ Eigentümer des eingebrachten Glases werde. Auch wenn die von dem Rentnerehepaar entwendeten 18 Glasflaschen mit einem Pfandwert von 1,44 Euro keinen nachhaltigen Wert repräsentierten, so sei das Eigentum des Containerinhabers doch objektiv nachweisbar beeinträchtigt. Eine solch eklatante Rechtsverletzung kann ein gewissenhafter StA natürlich nicht durchgehen lassen. Schließlich gilt für die Verfolgung von Straftaten das Legalitätsprinzip.

Ein bisschen Opportunität schadet auch nicht

Das mit der Sache befasste AG bewertete die Rechtslage anders. Der bei dem Containerinhaber eingetretene Schaden besteht nach Auffassung des AG nicht in dem Pfandwert sondern in dem Schmelzwert der Flaschen, da das gesamte eingelagerte Glas eingeschmolzen und dann wieder verwertet würde. Der Schmelzwert der 18 Flaschen, die das Rentner-Ehepaar aus dem Container entnommen habe, sei aber so gering, dass er praktisch nicht messbar sei. Bei einem so geringen Wert müsse man Fünfe auch mal gerade sein lassen, eine Strafwürdigkeit des Verhaltens des Rentnerehepaars sei hier nicht gegeben. Das Gericht lehnte daher den Erlass des beantragten Strafbefehls ab.

LG bremst den Verfolgungseifer der StA endgültig

Die StA gab nach der Entscheidung des AG aber nicht auf und unternahm alles, um die Delinquenten doch noch die Härte des Gesetztes spüren zu lassen. Sie legte sofortige Beschwerde gegen den amtsgerichtlichen Beschluss ein, stieß mit ihrem Verfolgungseifer beim LG aber auf taube Ohren. Das LG verwarf die Beschwerde kurzerhand, so dass die Entscheidung des AG inzwischen rechtskräftig ist.

Bagatellgrenze ist für Strafverteidiger von Interesse

Für Strafverteidiger ist die Entscheidung des AG durchaus bedeutsam. Im Grunde hat das AG mit seiner Entscheidung den Tatbestand des Diebstahls gemäß § 242 StGB um eine dort nicht genannte Schwelle der Erreichung eines Mindestschadens erweitert. Ohne Erreichen dieser Mindestschwelle ist nach der Entscheidung des AG die objektiv erfolgte Deliktsverwirklichung quasi nicht strafwürdig. Darin liegt eine neue, bisher nicht übliche Zusatzanforderung.

(AG München, Beschluss v. 28.3.2017, 843 Cs 238 Js 238969/16)

Bewertung von Bagatellen ist für Gerichte oft schwierig

Die Entscheidung erinnert ein wenig an die Entscheidungen einiger Arbeitsgerichte in Bagatellfällen, beispielsweise des ArbG Lübeck im Fall der Mitnahme weggeworfener Pfandflaschen durch eine Reinigungskraft. Das ArbG bewertete eine Kündigung des Arbeitgebers mit dem Bagatellargument als unwirksam, obwohl der Arbeitsvertrag in diesem Fall sogar ausdrücklich bestimmte, dass die Mitnahme auch geringwertiger Sachen, auch die von Abfall, der Reinigungskraft nach dem Arbeitsvertrag nicht gestattet war (ArbG Lübeck, Urteil v. 9.10.2009, 3 Ca 864/09). Aber auch hier existiert unter Juristen Uneinigkeit wie die berühmt gewordene gegenteilige Entscheidung des ArbG Berlin belegt, das bei Einlösung von Pfandbons mit geringem Wert durch eine langjährigen Arbeitnehmerin eine arbeitgeberseitige Kündigung als gerechtfertigt ansah (ArbG Berlin, Urteil v. 21.8.2008, 2 Ca 3632/08).

Etwas Großzügigkeit stünde auch der Justiz gut

Die unterschiedlichen Entscheidungen belegen, dass es den Gerichten oftmals schwer fällt, mit Bagatellfällen umzugehen und diese justizmäßig angemessen zu verarbeiten. Eine Art Bagatellvorbehalt bei der Ahndung von grenzwertigen Verhaltensweisen und eine damit einhergehende – natürlich eng begrenzte - Großzügigkeit der Justiz würde das System aber wohl nicht aushebeln und von der Allgemeinheit überwiegend positiv aufgenommen. Aber wo bitteschön soll man die Bagatellgrenze ziehen und wer bestimmt den Grenzverlauf – hört man die Nörgler einwenden. Aber die haben sich vielleicht nicht genügend mit dem Begriff „Großzügigkeit“ auseinandergesetzt. Das Recht insgesamt erschiene bei etwas Großzügigkeit jedenfalls für die überwiegende Allgemeinheit in einem sympathischeren Licht - und zum Wohle der Allgemeinheit ist ja schließlich gemacht. Nicht zuletzt die Anwälte könnten die Dinge hier vielleicht positiv beeinflussen.

Lesen Sie auch:

Bagatellkündigungen wegen Brötchen und andere Kleinigkeiten - ein Überblick

Schlagworte zum Thema:  Bagatellgrenze, Rechtsanwalt, Justiz, Juristen, Richter