Finanzamt darf geschlechtsspezifische Sterbetafeln verwenden

Die Anwendung geschlechterdifferenzierender Sterbetafeln bei der Bewertung lebenslänglicher Nutzungen und Leistungen für Zwecke der Erbschaft- und Schenkungsteuer im Rahmen von § 14 Abs. 1 BewG verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG.

Hintergrund: Gesetzliche Regelung

Der Kapitalwert lebenslänglicher Nutzungen und Leistungen ist nach § 14 Abs. 1 Satz 1 BewG mit dem Vielfachen des Jahreswerts nach Maßgabe der Sätze 2 bis 4 anzusetzen. Die Vervielfältiger sind nach der Sterbetafel des Statistischen Bundesamtes zu ermitteln und ab dem 1. Januar des auf die Veröffentlichung der Sterbetafel durch das Statistische Bundesamt folgenden Kalenderjahres anzuwenden (§ 14 Abs. 1 Satz 2 BewG).

Sachverhalt: Bewertung des Vorbehaltsnießbrauchs an GmbH-Anteilen

Der dem Rechtsstreit zugrundeliegende Sachverhalt stellt sich wie folgt dar:

  • Der Kläger sowie seine beiden Geschwister schlossen mit ihrem Vater V 2014 einen notariell beurkundeten Vertrag zur vorweggenommenen Erbfolge, mit dem V ihnen zum 1.5.2014 jeweils 23,33 % seiner Anteile an einer GmbH übertrug.
  • An den übertragenen Geschäftsanteilen behielt sich V den lebenslangen unentgeltlichen Nießbrauch vor. In § 4 des notariellen Vertrags wurde vereinbart, dass der Nießbraucher während der Dauer des Nießbrauchs alle mit den übertragenen Geschäftsanteilen verbundenen Lasten, insbesondere fällig werdende Einlagen und Nachschüsse, zu tragen hat.
  • Mit Bescheid vom 23.8.2021 setzte das FA Schenkungsteuer in Höhe von 1.918 EUR gegenüber dem Kläger fest. Dabei legte es für die an den Kläger übertragenen Anteile einen Wert in Höhe von 781.864 EUR zugrunde. Dieser Wert beruhte auf einem Bescheid des für die GmbH zuständigen Belegenheitsfinanzamts über die gesonderte und einheitliche Feststellung nach § 151 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BewG.
  • Von dem Anteilswert brachte das FA den Kapitalwert des Nießbrauchsrechts des V in Höhe von 354.406 EUR in Abzug, so dass sich der Wert des Erwerbs auf 427.458 EUR belief. Zur Ermittlung dieses Kapitalwerts setzte es den Jahreswert des Nießbrauchs gemäß § 16 BewG mit 1/18,6 des Werts der übertragenen Anteile an (781.864 EUR : 18,6 = 42.036 EUR) und multiplizierte diesen Betrag gemäß § 14 Abs. 1 BewG mit dem sich aus der amtlichen Sterbetafel ergebenden Vervielfältiger von 8,431 aufgrund des im Zeitpunkt der Schenkung vollendeten 74. Lebensjahres des V als Nießbrauchsberechtigtem.

Sprungklage war erfolglos

Die gegen den Schenkungsteuerbescheid vom 23.8.2021 vom Kläger mit Zustimmung des FA erhobene Sprungklage wies das FG ab.

Revisionsbegründung

Im Rahmen seiner gegen das FG-Urteil erhobenen Revision vertritt der Kläger die Auffassung, dass bei der Berechnung des Kapitalwerts des Nießbrauchs ein höherer Vervielfältiger hätte verwendet werden müssen. § 14 BewG enthalte einen "logischen Bruch", da nach Absatz 1 der Vorschrift der Vervielfältiger nach der statistischen Lebenserwartung bemessen werde, in Fällen jedoch, in denen sich das Sterberisiko innerhalb kurzer Zeit verwirkliche, nach Absatz 2 der Vorschrift der Kapitalwert nach der tatsächlichen Laufzeit zu bestimmen sei.

Außerdem verstoße die Verwendung geschlechterdifferenzierender Sterbetafeln bei der Bewertung des Nießbrauchs gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 GG, weil der Gesetzgeber im Rahmen des § 14 BewG nicht berechtigt sei, das Geschlecht bei der Anwendung der Sterbetafeln mit steuerlicher Wirkung zu berücksichtigen.

Entscheidung: Kein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot

Der BFH hat die Revision als unbegründet zurückgewiesen. Das FG hat zu Recht entschieden, dass die Übertragung der GmbH-Anteile auf den Kläger gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 7 Abs. 1 Nr. 1 des ErbStG der Schenkungsteuer unterliegt. Bei der Ermittlung des steuerpflichtigen Erwerbs hat es den Kapitalwert des Vorbehaltsnießbrauchs zutreffend gemäß § 14 BewG ermittelt und in Abzug gebracht. Die von dem Kläger erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Vorschrift des § 14 BewG greifen nicht durch.

Zutreffende Ermittlung des Kapitalwerts

Die Bewertung des bei der Zuwendung der GmbH-Anteile vorbehaltenen Nießbrauchs richtet sich gemäß § 12 Abs. 1 ErbStG nach den Vorschriften des Ersten Teils des BewG. Das FA hat den Kapitalwert des Nießbrauchs in der Weise berechnet, dass es den der Höhe nach unstreitigen Jahreswert des Nießbrauchs an den übertragenen GmbH-Anteilen in Höhe von 42.036 EUR mit einem Vervielfältiger in Höhe von 8,431 multipliziert hat. Diese Berechnung entspricht den gesetzlichen Vorgaben aus § 14 Abs. 1 Satz 2 und 4 BewG.

Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine von § 14 Abs. 1 Satz 2 BewG abweichende Bestimmung des Vervielfältigers nach § 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 BewG hat das FA zutreffend nicht als erfüllt angesehen, weil nach den Feststellungen des FG das Nießbrauchsrecht des V mehr als fünf Jahre nach der Ausführung der Schenkung zum 01.05.2014 bestanden hat.

Kein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot

Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG darf niemand wegen seines Geschlechts benachteiligt oder bevorzugt werden. Die Vorschrift konkretisiert und verstärkt den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Das Geschlecht darf grundsätzlich nicht als Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Ungleichbehandlung herangezogen werden.

Der Senat ist aber nicht davon überzeugt, dass die Ermittlung des Kapitalwerts von lebenslänglichen Nutzungen und Leistungen nach unterschiedlichen Vervielfältigern für Männer und Frauen gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG verstößt. Nach Auffassung des Senats ist diese geschlechterbedingte Differenzierung im Rahmen der Bewertung für Zwecke der Erbschaft- und Schenkungsteuer verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Die Verwendung der geschlechterdifferenzierenden Sterbetafeln im Rahmen von § 14 Abs. 1 BewG dient einem legitimen Ziel mit Verfassungsrang, nämlich die Kapitalwerte lebenslänglicher Nutzungen und Leistungen für Zwecke der Erbschaft- und Schenkungsteuer mit zutreffenden Werten zu erfassen und entsprechend dem Leistungsfähigkeitsgrundsatz der Besteuerung zugrunde zu legen.

Da sich die Vergleichsgruppe der Frauen von der Vergleichsgruppe (gleichaltriger) Männer ausweislich der Sterbetafeln durch eine statistisch höhere Lebenserwartung unterscheidet, führt die Verwendung geschlechtsspezifisch unterschiedlicher Vervielfältiger bei der Ermittlung des Kapitalwerts lebenslänglicher Nutzungen und Leistungen zu genaueren und in ihrer Relation realitätsgerechteren Bewertungsergebnissen als die Verwendung von um das Geschlecht bereinigten Vervielfältigern.

Hinweis: Entscheidungen ergingen zur Rechtslage im Jahr 2014

Die Entscheidung des BFH erging zur Rechtslage im Jahr 2014. Der BFH hatte nicht darüber zu entscheiden, welche Auswirkungen sich aus dem am 1.11.2024 in Kraft getretenen Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag für die Bewertung lebenslänglicher Nutzungen und Leistungen ergeben (vgl. Pressemitteilung des BFH v. 10.4.2025, Nr. 023/25).

BFH, Urteile v. 20.11.2024, II R 38/22, veröffentlicht am 10.4.2024

Alle am 10.4.2025 veröffentlichten Entscheidungen des BFH mit Kurzkommentierungen