"… Die zulässige Berufung des Kl. ist überwiegend begründet, die zulässig erhobene Anschlussberufung unbegründet. Das Urt. des AG beruht auf einer Rechtsverletzung und die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen rechtfertigen eine andere Entscheidung (§ 513 Abs. 1 ZPO)."

Zu Recht ist das Erstgericht allerdings zunächst davon ausgegangen, dass sowohl die Bekl. als auch der Kl. grds. für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gem. §§ 7, 17 Abs. 1, 2 StVG i.V.m. § 115 VVG einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kfz entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG darstellte. Dies wird durch die Berufung auch nicht angegriffen.

2. Im Rahmen der danach gebotenen Haftungsabwägung gem. § 17 Abs. 1, 2 StVG hat die Erstrichterin festgestellt, dass die Zeugin (…) unter Verstoß gegen § 10 StVO den Unfall verursacht habe. Dies hält berufungsgerichtlicher Überprüfung nicht stand. Anders als die Erstrichterin meint, ist der Anwendungsbereich des § 10 S. 1 StVO hier nicht eröffnet. Denn es handelt sich bei der Zuwegung zum Betriebsgelände der Fa. (…) nicht um eine Ausfahrt aus einem Grundstück i.S.d. § 10 S. 1 StVO, sondern um eine einmündende Straße i.S.d. § 8 StVO.

a) Die Frage, ob eine Grundstücksfläche als bloße Grundstücksausfahrt oder als einmündende oder kreuzende Straße einzuordnen ist, ist eine Frage tatrichterlicher Würdigung. Entscheidend ist die Verkehrsbedeutung, wie sie sich aus dem Gesamtbild der äußerlich erkennbaren Merkmale erschließt (vgl. stellv. nur Scholten, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 10 StVO Rn 26 m.w.N.). Danach weist die Zufahrt zum schrankengesicherten Betriebsgelände der Fa. (…) hier die typischen Merkmale einer Straße auf. Die Fahrbahn hat eine für Straßen übliche Breite mit durchgehender Asphaltierung zur (…)-Straße. Die Randsteine sind entsprechend der Richtung des einmündenden Bereichs in Trichterform verlegt. Es existiert ein von der Fahrbahn abgesetzter Bürgersteig. Die Beschilderung ist für Straßen üblich (Zeichen 133, 205, 253, 274, 350) und es finden sich für Straßen typische Markierungen (Zeichen 293 “Fußgängerüberweg'). Schließlich existiert auch keine Beschilderung, durch die das Befahren der Einfahrt beschränkt und bspw. nur Werksangehörigen vorbehalten würde (vgl. hierzu Kammer, Urt. v. 12.5.2017 – 13 S 184/16). Dass die Straße hier vorrangig, wenn nicht ausschließlich, der Zufahrt zum Werksgelände der Fa. (…) dient, ändert dabei an der rechtlichen Einordnung als Straße nichts (vgl. Kammer a.a.O.; dort ebenfalls Zufahrt zu einem Werksgelände).

b) Hiervon ausgehend hatte die Zeugin (…) beim Einfahren auf die (…)-Straße nicht den Sorgfaltsmaßstab des § 10 S. 1 StVO, sondern den des § 8 StVO (Vorfahrt) zu beachten. Dabei war sie gegenüber dem Verkehr auf der (…)-Straße gem. § 8 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StVO i.V.m. Zeichen 205 (“Vorfahrt gewähren') wartepflichtig. Allerdings kann ein Verstoß der Zeugin (…) gegen § 8 StVO nicht festgestellt werden.

aa) Zwar durfte die Zeugin (…) als Wartepflichtige den Erstbekl. als Vorfahrtsberechtigten bei dessen Abbiegen in die Zufahrtsstraße nicht wesentlich behindern (§ 8 Abs. 2 S. 4 StVO). Allerdings ist anerkannt, dass der Vorfahrtsberechtigte außerhalb des eigentlichen Einmündungs- bzw. Kreuzungsbereichs beim Abbiegen nur auf der rechten Fahrbahn der untergeordneten Straße Vorrang genießt, nicht dagegen auf der linken Fahrbahnseite der untergeordneten Straße (vgl. KG VersR 1994, 1085; KG, Urt. v. 23.2.1995 – 12 U 4356/93, juris; OLG Düsseldorf zfs 1980, 190; Spelz, in: Freymann/Wellner, jurisPK-StrVerkR, 1. Aufl., § 8 StVO Rn 41; König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl., § 8 StVO Rn 28; Freymann, in: Geigel, Der Haftpflichtprozess, 27. Aufl., Kap. 27 Rn 249; Greger/Zwickel, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 5. Aufl., § 14 Rn 152). Der Wartepflichtige darf deshalb, ohne dass ihn ein Verstoß gegen § 8 StVO trifft, auf der für ihn rechten Fahrbahnseite grds. bis zur Schnittlinie der Einmündung vorfahren und muss sich nur darauf einstellen, vor dem Fahrbahnrand der bevorrechtigten Straße anhalten zu können (Freymann, a.a.O., Rn 249; König, a.a.O., Rn 28).

bb) Nach diesen Grundsätzen durfte die Zeugin (…) auf der für sie rechten Fahrbahnseite der Zufahrtsstraße bis zur (unterbrochenen) Wartelinie vorfahren, da diese die Schnittlinie zur vorfahrtsberechtigten (…)-Straße markiert. Dem steht nicht entgegen, dass sich aus Fahrtrichtung der Zeugin (…) vor dieser Wartelinie noch eine Bushaltestelle in Form einer Bushaltebucht befindet, die in Fahrtrichtung (…) rechtsseitig zur (…)-Straße liegt und dem dortigen Busverkehr dient. Diese Bushaltebucht stellt nämlich einen neben der Straße liegenden anderen Straßenteil i.S.d. § 10 S. 1 StVO dar (vgl. OLG Düsseldorf zfs 1990, 402; KG zfs 2009, 140; Kammer, Urt. v. 5.4.2012 – 13 S 209/11, NZV 2013, 35; Sc...

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