BGB § 254 Abs. 1; StVO § 21a Abs. 1 S. 1, § 34 Abs. 1 Nr. 2

Leitsatz

Hat der Insasse eines Pkw den Sicherheitsgurt nicht angelegt, trifft ihn im Falle der Verletzung wegen eines Verkehrsunfalls eine zur Anspruchsminderung führende Mithaftung nur, wenn es feststeht, dass die erlittenen Verletzungen entweder verhindert worden wären oder doch weniger schwerwiegend gewesen wären, wenn der Verletzte zum Zeitpunkt des Unfalls angeschnallt gewesen wäre.

(Leitsatz der Schriftleitung)

BGH, Urt. v. 28.2.2012 – VI ZR 10/11

Sachverhalt

Die Kl. befuhr gegen 3.10 Uhr mit ihrem Pkw die BAB A5 und verlor aus ungeklärten Gründen die Kontrolle über ihr Fahrzeug. Das Fahrzeug geriet ins Schleudern, stieß gegen die Mittelleitplanke und kam auf der linken Fahrspur unbeleuchtet zum Stehen. Kurz darauf prallte der Bekl. zu 1), der mit einer Geschwindigkeit von 130 km/h und eingeschaltetem Abblendlicht gefahren war, mit seinem bei der Bekl. zu 2) haftpflichtversicherten Fahrzeug auf den Pkw der Kl. Die Kl. wurde schwer verletzt. Das LG hat der Klage der Kl. auf Ersatz von 1/3 der materiellen und immateriellen Schäden durch Grund- und Teilurteil stattgegeben. Das BG ging davon aus, dass die Bekl. nicht für die Schäden aus dem Erstunfall haftbar seien. Da die Kl. bei dem Zweitunfall nicht angegurtet gewesen sei, müsse sie sich einen Mitverschuldensanteil von 60 % entgegen halten lassen.

Die Revision der Kl. wandte sich dagegen, dass das BG den Mitverschuldensanteil der Kl. bei dem Zweitunfall mit mehr als 40 % bemessen hatte, weil die Kl. nicht angegurtet gewesen sei.

2 Aus den Gründen:

[5] “ … Die Revision beanstandet zu Recht, dass das BG keine Feststellungen dazu getroffen hat, inwieweit sich der Umstand, dass die Kl. zum Zeitpunkt des Zweitunfalls den Sicherheitsgurt nicht angelegt hatte, auf die von ihr erlittenen Verletzungen ausgewirkt hat.

[6] a) Die Entscheidung über eine Haftungsverteilung im Rahmen des § 254 BGB oder des § 17 StVG ist grds. Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob der Tatrichter alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt hat (vgl. Senatsurt. v. 12.7.1988 – VI ZR 283/87, VersR 1988, 1238, 1239; v. 5.3.2002 – VI ZR 398/00, VersR 2002, 613, 615 f. und v. 25.3.2003 – VI ZR 161/02, VersR 2003, 783, 785, jeweils m.w.N.; BGH, Urt. v. 20.7.1999 – X ZR 139/96, NJW 2000, 217, 219 und v. 14.9.1999 – X ZR 89/97, NJW 2000, 280, 281 f.). In erster Linie ist hierbei nach der st. Rspr. des BGH das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben (Senatsurt. v. 20.9.2011 – VI ZR 282/10, VersR 2011, 1540 Rn 14 m.w.N.). Daraus folgt, dass den Insassen eines Pkw, der entgegen § 21a Abs. 1 S. 1 StVO während der Fahrt den Sicherheitsgurt nicht angelegt hatte, im Falle einer Verletzung infolge eines Verkehrsunfalls nur dann eine anspruchsmindernde Mithaftung trifft, wenn im Einzelfall festgestellt ist, dass nach der Art des Unfalls die erlittenen Verletzungen tatsächlich verhindert worden oder zumindest weniger schwerwiegend gewesen wären, wenn der Verletzte zum Zeitpunkt des Unfalls angeschnallt gewesen wäre (vgl. Senatsurt. v. 20.3.1979 – VI ZR 152/78, BGHZ 74, 25, 33 und v. 1.4.1980 – VI ZR 40/79, VersR 1980, 824 f.).

[7] b) Die danach gebotene Prüfung der Ursächlichkeit des Zweitunfalls für die von der Kl. erlittenen Verletzungen hat das BG versäumt. Es hat nämlich weder festgestellt, welche Verletzungen die Kl. erst durch den Aufprall des von dem Bekl. zu 1 gelenkten Pkw auf ihren Pkw erlitten hat, noch welche dieser Verletzungen darauf zurückzuführen sind, dass sie nicht angeschnallt war. Es führt dazu lediglich aus, die Kl. habe durch das Nichtanlegen des Sicherheitsgurts zur Entstehung der weitreichenden körperlichen und darauf basierenden finanziellen Unfallfolgen maßgeblich beigetragen. Eine Begründung dafür findet sich in den Gründen des angefochtenen Urt. nicht. Es heißt dort lediglich, die Kl. sei durch den Aufprall aus dem Sitz gerissen und im Fahrzeug umhergeschleudert worden, was ohne Zweifel zumindest für gewisse weitere Verletzungen der Kl. mitursächlich gewesen sei. Welche Verletzungen tatsächlich hätten verhindert werden können, wenn die Kl. bei dem Zweitunfall angeschnallt gewesen wäre, ist nicht festgestellt.

[8] Das wäre zur Begründung einer darauf gestützten Mithaftung jedoch erforderlich gewesen, zumal vorliegend gerade auch angesichts der hohen Aufprallgeschwindigkeit zweifelhaft sein könnte, inwieweit das Nichtanlegen des Sicherheitsgurts für die eingetretenen Verletzungen ursächlich war (vgl. Senatsurt. v. 20.3.1979 – VI ZR 152/78, a.a.O.).

[9] 3. Die Revision beanstandet zudem mit Recht, dass das BG der Kl. auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen überhaupt ein Mitverschulden wegen des Nichtanlegens des Sicherheitsgurts angelastet hat.

[10] a) Da die Bekl., wie das BG zutreffend erkennt, für die Folgen des Erstunfalls nicht einzustehen haben, kommt es vorliegend ni...

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