[9] "… 1. Mit den Erwägungen des BG lässt sich ein Anspruch der Kl. auf weiteren Schadensersatz nicht verneinen. Mit Erfolg beanstandet die Revision die Ausführungen des BG zur Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verantwortungsbeiträge nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG."

[10] a) Grundsätzlich ist die Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG – wie im Rahmen des § 254 BGB – Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden sind (Senatsurt. v. 27.5.2014 – DAR 2014, 257 Rn 18; vom 7.2.2012 – DAR 2012, 201 Rn 5 m.w.N.). Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, das heißt unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben; in erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (Senatsurt. v. 27.5.2014, a.a.O., m.w.N.; vom 7.2.2012, a.a.O., m.w.N.). Einer Überprüfung nach diesen Grundsätzen hält die vom BG vorgenommene Abwägung nicht stand. Auf der Grundlage des im Revisionsverfahren maßgeblichen Sachverhalts kann nicht ausgeschlossen werden, dass in die Abwägung zu Lasten der Bekl. ein Verschulden der Bekl. zu 1 hätte eingestellt werden müssen.

[11] b) Im Ausgangspunkt zutreffend geht das BG freilich davon aus, dass ein solches Verschulden nicht aus einem Verstoß der Bekl. unmittelbar gegen § 9 Abs. 5 StVO hergeleitet werden kann. Die Vorschrift ist auf Parkplätzen ohne eindeutigen Straßencharakter nicht unmittelbar anwendbar (Senatsurt. v. 15.12.2015 – DAR 2016, 197 m. Anm. Engel, Rn 11). Mittelbare Bedeutung erlangt § 9 Abs. 5 StVO aber über § 1 StVO. Entsprechend der Wertung des § 9 Abs. 5 StVO muss sich auch derjenige, der auf einem Parkplatz rückwärts fährt, so verhalten, dass er sein Fahrzeug notfalls sofort anhalten kann (Senat a.a.O.). Kollidiert der Rückwärtsfahrende mit einem anderen Fahrzeug, so können zugunsten desjenigen, der sich auf ein unfallursächliches Verschulden des Rückwärtsfahrenden beruft, die Grundsätze des Anscheinsbeweises zur Anwendung kommen. Steht fest, dass sich die Kollision beim Rückwärtsfahren ereignete, der Rückwärtsfahrende zum Kollisionszeitpunkt selbst also noch nicht stand, so spricht auch bei Parkplatzunfällen ein allgemeiner Erfahrungssatz dafür, dass der Rückwärtsfahrende der dargestellten Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen ist und den Unfall dadurch (mit)verursacht hat (vgl. Senat a.a.O., Rn 14 f.).

[12] c) Nach diesen – vom erkennenden Senat erst nach Erlass des Berufungsurteils entwickelten – Grundsätzen hätte, was der Senat im Revisionsverfahren überprüfen darf (z.B. Senatsurt. v. 26.3.2013 – VersR 2013, 1000 Rn 27; vom 16.3.2010 – VersR 2010, 627 Rn 16 m.w.N.), auf der Grundlage des revisionsrechtlich maßgeblichen Sachverhalts davon ausgegangen werden müssen, dass der Beweis des ersten Anscheins für ein unfallursächliches Verschulden der Bekl. zu 1 spricht. Denn die Kl. hat ausweislich der tatbestandlichen Feststellungen des Berufungsurteils vorgetragen, die aus der Parklücke rückwärts (wieder) ausfahrende Bekl. zu 1 sei auf das im Kollisionszeitpunkt bereits stehende Fahrzeug der Kl. aufgefahren. Davon abweichende Feststellungen hat das BG nicht getroffen, weshalb dieser Vortrag im Revisionsverfahren zu unterstellen ist. Umstände, die den Anscheinsbeweis erschüttern, hat das BG ebenfalls nicht festgestellt.

[13] 2. Die angefochtene Entscheidung beruht auf dem dargestellten Rechtsfehler (§ 545 Abs. 1 ZPO). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Kl. mehr als die ihr von der Bekl. zu 2 bereits gezahlten 60 % des Schadens zu ersetzen sind, wenn bei der nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG vorzunehmenden Abwägung der Verursachungs- und Verantwortungsbeiträge ein schuldhafter Verstoß der Bekl. zu 1 gegen § 1 StVO berücksichtigt wird.

[14] 3. Für das weitere Verfahren und die dabei neu vorzunehmende Abwägung der Verursachungs- und Verantwortungsbeiträge wird auf Folgendes hingewiesen:

[15] Das BG wird unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des erkennenden Senats die Frage zu klären haben, ob der Bekl. zu 1 ein Verschuldensvorwurf zu machen ist, der bei der Abwägung zu Lasten der Bekl. zu berücksichtigen wäre. Gegebenenfalls wird sich das BG auch mit der unabhängig davon zu beurteilenden Frage zu befassen haben, ob der Unfall auch auf einem Verschulden der Kl. beruht. Im Hinblick auf ein mögliches Mitverschulden der Kl. wird zu berücksichtigen sein, dass das dafür erforderliche sorgfaltspflichtwidrige Verhalten der Kl., sollte es nicht unstreitig sein, ebenfalls positiv festgestellt werden muss.“

Mitgeteilt von RiBGH Wolfgang Wellner, Karlsruhe

zfs 8/2016, S. 434 - 435

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