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Die Bestimmung des Versicherungsfalles ist im Versicherungsrecht von entscheidender Bedeutung, da nur ein Versicherungsfall eine Leistungsverpflichtung des Versicherers auslösen kann. Der Versicherungsfall muss durch die Verwirklichung eines versicherten Risikos eintreten während der materiellen Dauer des Versicherungsvertrages.

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In der Haftpflichtversicherung und auch in der Rechtsschutzversicherung löst der jeweilige Verstoß des Versicherungsnehmers gegen vertragliche oder rechtliche Vorschriften den Versicherungsfall aus. Im angelsächsischen Recht und in der D&O-Versicherung gilt das Anspruchserhebungsprinzip (Claims-made-Prinzip): Als Versicherungsfall gilt die erstmalige schriftliche Geltendmachung eines Haftpflichtanspruchs.

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Der BGH hat zur Definition des Vertragsrechtsschutzes in der Rechtsschutzversicherung einen Paradigmenwechsel von großer Tragweite vorgenommen: Eigene Verstöße des Versicherungsnehmers gegen Rechtsvorschriften oder vertragliche Vereinbarungen sind nicht mehr relevant; entscheidend ist allein, auf welchen Tatsachenvortrag der Versicherungsnehmer seinen Anspruch gegen den Vertragspartner stützt. Wenn beispielsweise ein Versicherer die Anfechtung eines Vertrages wegen arglistiger Täuschung erklärt, weil der Versicherungsnehmer bei Vertragsschluss vor acht Jahren falsche Angaben gemacht hat, ist entscheidend für die Definition des Versicherungsfalles der Tatsachenvortrag des Versicherungsnehmers, der Versicherer habe zu Unrecht die Anfechtung erklärt.

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Karl Maier hat bereits im vergangenen Jahr auf die Brisanz der aktuellen Rechtsprechung des BGH und deren Folgen hingewiesen:[1]

[1] R+s 2015, 489 ff.; ebenso Schaltke mit Fallbeispielen, VersR 2016, 573 ff.

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"Andererseits aber haben drei Urteile des BGH zu dem Ergebnis geführt, dass, wenn nicht ganze Bibliotheken, so doch ganze Kommentare völlig neu geschrieben werden müssen und dass älteren Urteilen zur Rechtsschutzversicherung kaum noch ein Aussagewert zukommt".

A. D&O-Versicherung

Im deutschen Rechtskreis gilt das Anspruchserhebungsprinzip nur in der D&O-Versicherung. Die übliche Kurzform "D&O-Versicherung" steht für "Directors & Offices Liability Insurance". Die deutsche Bezeichnung für diese Sparte lautet: "Vermögensschadenhaftpflichtversicherung für Aufsichtsräte, Vorstände und Geschäftsführer". Durchgesetzt hat sich in der Praxis die Bezeichnung "D&O-Versicherung". In dieser Sparte wird den versicherten Personen für den Fall Versicherungsschutz gewährt, dass sie wegen einer bei der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit begangenen Pflichtverletzung für einen Vermögensschaden in Anspruch genommen werden. Insoweit handelt es sich um eine Versicherung für fremde Rechnung gemäß § 74 ff. VVG.

In dieser Sparte ist somit Versicherungsfall nicht das Fehlverhalten des versicherten Personenkreises, der Versicherungsfall wird erst ausgelöst durch die erstmalige Geltendmachung von Haftpflichtansprüchen.

B. Versicherungsfall in der Rechtsschutzversicherung

Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen ist ausschließlich der Vertragsrechtsschutz, da die Definition des Versicherungsfalles im Schadenersatzrechtsschutz und im Beratungsrechtsschutz unproblematisch ist. Für den Schadenersatzrechtsschutz löst das erste Ereignis, durch das der Schaden entstanden ist oder entstanden sein soll, die Leistungspflicht des Versicherers aus.

Im Beratungsrechtsschutz gilt als Rechtsschutzfall das Ereignis, welches die Rechtslage des versicherten Personenkreises verändert (§ 4 Abs. 1c ARB 2010).

In § 4 Abs. 1c ARB 2000 wird für den Vertragsrechtsschutz der Zeitpunkt definiert, "in dem der Versicherungsnehmer oder ein anderer einen Verstoß gegen Rechtspflichten oder Rechtsvorschriften begangen hat oder begangen haben soll". Die früheren ARB enthalten eine inhaltlich gleiche Definition, ebenso die ARB 2012 (2.4.3).

Nach dieser Definition ist auf das erste vertragswidrige Verhalten abzustellen, und zwar sowohl das des Anspruchsgegners als auch das des Versicherungsnehmers. Wenn ein Versicherungsnehmer bei Abschluss eines Lebensversicherungsvertrages oder Berufsunfähigkeitsvertrages falsche Angaben zu seinem Gesundheitszustand gemacht hat, lag darin ein Verstoß gegen Rechtsvorschriften und vertragliche Vorschriften, so dass der Versicherungsfall zu diesem Zeitpunkt bereits eingetreten war.

Nach gefestigter Rechtsprechung und einhelliger Kommentierung war der Versicherungsfall bereits dann eingetreten, wenn der Versicherungsnehmer selbst gegen Rechtsvorschriften verstoßen hatte.[2] Entscheidend war allein, dass der Verstoß des Versicherungsnehmers bereits geeignet war, den Rechtskonflikt auszulösen und bereits den "Keim des Rechtskonfliktes" in sich trug.[3]

Noch in einer Entscheidung des BGH vom 28.9.2005[4] heißt es, es genüge für den einen Rechtsschutzfall auslösenden Verstoß "jeder tatsächliche, objektiv feststellbare Vorgang, der den Keim eines Rechtskonflikts in sich trägt".

Das OLG Koblenz[5] stellt darauf ab, ob der Versicherungsfall bereits durch das Verhalten des Versicherungsnehmers "vorprogrammiert" war. In einer weiteren Entscheidung des OLG Ko...

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