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Der Autor zeigt auf, in welch signifikanter Weise sich die fiktive Abrechnung von Pkw-Schäden unter dem Einfluss der Rechtsprechung des BGH in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat. Die einzelnen Stationen dieses Wandels werden beleuchtet und die Hintergründe erörtert. Anschließend setzt sich der Autor kritisch mit der Ansicht auseinander, wonach Stundenverrechnungssätze, die unter dem ortsüblichen Durchschnitt liegen, noch marktüblich seien im Sinne der Rechtsprechung des BGH.

A. Frühere Identität von fiktiver und konkreter Abrechnung

Nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB hat jeder Geschädigte das Recht, seinen Pkw-Schaden nach einem Verkehrsunfall fiktiv auf Basis eines Sachverständigengutachtens oder Kostenvoranschlags abzurechnen. Von der herrschenden Meinung wurde schon früher unter Hinweis auf das Gesetz und die Intentionen des Gesetzgebers die Ansicht vertreten, dass ein Geschädigter seinen beschädigten Pkw nach einem Verkehrsunfall nicht reparieren lassen muss, sondern ihn auch "beschädigt weiterbenutzen, wegwerfen, verschenken oder verkaufen und gleichwohl den zur fiktiven Wiederherstellung erforderlichen Geldbetrag verlangen kann".[2] Das Recht auf fiktive Abrechnung blieb auch bestehen, wenn der Geschädigte die Reparatur in eigener Regie kostengünstiger vorgenommen hat.[3] Nach der Entscheidung des BGH vom 20.6.1989 kann der Geschädigte seinen Reparaturschaden fiktiv nach Gutachten abrechnen und muss den nach § 249 BGB erforderlichen Geldbetrag nicht für eine Reparatur verwenden.[4]

Bereits in einer früheren Grundsatzentscheidung vom 23.3.1976 (VI ZR 41/74) hat der BGH das Recht auf fiktive Schadenabrechnung ausdrücklich bestätigt und dazu ausgeführt, dass es jedem Geschädigten frei stehe, den zur Wiederherstellung erforderlichen Geldbetrag auch anderweitig zu verwerten.[5] In dieser Entscheidung wies der BGH darauf hin, dass das Recht auf fiktive Abrechnung auch den Vorstellungen des Gesetzgebers entspreche.[6]

Nach der Rechtsprechung des BGH ergaben sich bei den Stundenverrechnungsätzen keine Unterschiede zwischen fiktiver und konkreter Schadenabrechnung, denn in beiden Fällen wurde von den Maßstäben markengebundener Fachwerkstätten ausgegangen. Unterschiede bestanden auch nicht bei der Mehrwertsteuer, weil die Mehrwertsteuer bei der fiktiven Abrechnung ein "echter Schadenposten" und dem Geschädigten vom Schädiger vollständig zu ersetzen war.[7] Fiktive und konkrete Abrechnung waren mithin im Hinblick auf die Stundenverrechnungssätze und die Mehrwertsteuer identisch. Diese Identität besteht heute nicht mehr.

[2] So z.B. Greger Anfang der 90er Jahre, Zivilrechtliche Haftung, Großkommentar, 2. Aufl., 1990, § 7 StVG Rn 184.
[3] Ders., a.a.O., § 7 Rn 202a.
[5] BGH v. 23.3.1976 – VI ZR 41/74; bestätigt durch die Entscheidungen v. 22.11.1977 – VI ZR 114/76 und v. 22.11.1977 – VI ZR 119/76.
[6] BGH v. 23.3.1976 – VI ZR 41/74, mit Hinweis auf BGHZ 63, 182, 184 und Prot. I 296, 297.
[7] BGH v. 19.6.1973 – VI ZR 46/72.

B. Unterschiede zwischen fiktiver und konkreter Abrechnung

Zunächst führte der Gesetzgeber ab dem 1.8.2002 durch das 2. SchadÄndG die Änderung ein, dass die Mehrwertsteuer bei fiktiver Abrechnung vom Schädiger nicht mehr auszugleichen ist.[8] Als Grund für diese Gesetzesänderung wurden die Kfz-Schäden angegeben.[9]

Nach den Vorstellungen der Versicherungswirtschaft sollte die fiktive Abrechnung aber nicht nur bezüglich der Mehrwertsteuer, sondern insgesamt eingeschränkt werden.[10] Diese Forderung wurde von den Vertretern der Versicherungswirtschaft auf dem 38. Verkehrsgerichtstag 2000 ausdrücklich kommuniziert.[11]

Die Forderung nach einer gesetzlichen Einschränkung der fiktiven Abrechnung wurde im Rahmen der Erörterungen zum 2. SchadÄndG dann ernsthaft in Erwägung gezogen und in einen Referentenentwurf aufgenommen, letztlich aber doch nicht umgesetzt, weil erhebliche Gegenargumente vorgebracht wurden.[12] Im Ergebnis wurde eine Einschränkung der fiktiven Abrechnung dann politisch nicht für durchsetzbar gehalten und vom Gesetzgeber verworfen,[13] so dass es bei der Änderung der Mehrwertsteuererstattung blieb.

Neben dieser gesetzlichen Neuregelung ergaben sich aber bis heute weitreichende und gravierende Veränderungen der Rechtslage, die durch die Rechtsprechung des BGH ausgelöst wurden. Der Ausgangspunkt für diese Rechtsprechung war letztlich das Schadenmanagement der Versicherungswirtschaft. Das Schadenmanagement, also die organisierte, an dem Ziel niedriger Schadenaufwendungen ausgerichtete Schadenbearbeitung, wurde Anfang der 1990er Jahre nach der Deregulierung der nationalen Versicherungsmärkte ins Leben gerufen.

Ab 2003 setzte schließlich die Rechtsprechung des BGH ein, die die Rechtslage in den kommenden Jahren und bis heute umwandeln und völlig neu gestalten sollte. Sie wurde in ihrer Vielfalt dadurch ermöglicht, dass die Berufungskammern der Landgerichte seit 2002 die Revision zum BGH auch bei niedrigeren Streitwerten zulassen konnten und davon zur Rechtsfortbildung rege Gebrauch machten.[14]

[9] BT-Drucks 14 (7752, 13, 23).
[10] Kleine-Cosack, DAR 98, 180 ff.; ...

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