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Der Beitrag setzt sich mit der Praxis des Anscheinsbeweises auseinander und geht dabei insbesondere auf die Unfallkonstellationen ein, bei denen regelmäßig eine Anwendung des Anscheinsbeweises in Betracht zu ziehen ist. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung soll dabei angesprochen werden, welche tatsächlichen Voraussetzungen für das Berufen auf den Anscheinsbeweis gegeben sein müssen.

A. Typische Unfallkonstellationen mit Anscheinsbeweis

I. Vorfahrtverletzung

Kollidieren zwei Fahrzeuge im Bereich einer durch Verkehrszeichen geregelten Kreuzung oder Einmündung spricht der Anscheinsbeweis für eine Verletzung der Wartepflicht desjenigen, der sich von der wartepflichtigen Richtung aus genähert hat. Sind Verkehrszeichen nicht vorhanden, spricht der Anschein zu Lasten desjenigen, der sich von links genähert hat.

Damit müssen für denjenigen, der sich auf den Anscheinsbeweis beruft, zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Er muss nachweisen können, sich von der bevorrechtigten Fahrtrichtung aus genähert zu haben und dass sich der Unfall innerhalb des sog. Kreuzungsvierecks ereignet hat.

Gerade Letzteres ist häufig dann nicht gegeben, wenn der Vorfahrtberechtigte in dem Versuch, eine Kollision zu vermeiden, dem wartepflichtigen Fahrzeug ausweicht und es dann entweder außerhalb des Kreuzungsvierecks oder gar zu keiner direkten Kollision der Fahrzeuge kommt. Dann kommen die Grundsätze des Anscheinsbeweises nicht zum Tragen. So hat das OLG München[2] entschieden, dass es an einer konstitutiven Voraussetzung des Anscheinsbeweises mangelt, wenn eine Berührung zwischen dem vorfahrtberechtigten und dem wartepflichtigen Fahrzeug nicht stattgefunden hat.

Welchen Umfang hat der Anscheinsbeweis bei der Vorfahrtverletzung? Nicht selten nachzulesen ist, dass bei einer Vorfahrtverletzung der Anscheinsbeweis für ein "Alleinverschulden" des Wartepflichtigen spricht. Dies ist missverständlich und falsch. Missverständlich deshalb, weil Kraftfahrzeugführer bzw. -halter nicht nur aus (Allein-)Verschulden haften, sondern auch die Betriebsgefahr zu berücksichtigen ist. Falsch ist es deshalb, weil der Erfahrungssatz nur beschreibt, dass der Wartepflichtige sich falsch verhalten hat. Ein Erfahrungssatz dahingehend, dass der Vorfahrtberechtigte sich vollumfänglich richtig verhalten hat, existiert nicht. Erst recht gibt es keinen Erfahrungssatz, demzufolge der Unfall für den Vorfahrtsberechtigten unvermeidbar war. Im Rahmen der Haftungsabwägung wird jedoch festgestellt werden können, dass ohne weitere bewiesene Tatsachen lediglich das Verschulden des Wartepflichtige feststeht und zumindest bei durch Verkehrszeichen geregelten Kreuzungen und Einmündungen die Betriebsgefahr hinter dem Verschulden des Wartepflichtigen zurücktritt.

Zunehmend werden, da sie den Verkehrsfluss begünstigen sollen, Kreisverkehre eingerichtet. Dies führt freilich auch zu einer Zunahme von Unfallkonstellationen zwischen Fahrzeugen, die bereits im Kreisverkehr befindlich sind, und Fahrzeugen, die in den Kreisverkehr einfahren wollen. Hier stellt sich nun die Frage, ob die Regeln zum Anscheinsbeweis, die für das Vorfahrtsrecht entwickelt worden sind, auch im Kreisverkehr Anwendung finden können. Sehr ausführlich und überzeugend hat sich hiermit das LG Saarbrücken[3] beschäftigt. Es hat mitgeteilt, dass im Grundsatz auch für die Vorfahrtsverletzung im Kreisverkehr der Anscheinsbeweis zu Lasten desjenigen spricht, der an der Stelle, an der sich der Unfall anschließend ereignet hat, in den Kreisverkehr einfahren wollte. Denn auch wenn mit sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten in einen Kreisverkehr eingefahren werden kann, wird man der Lebenserfahrung nach davon ausgehen können, dass derjenige, der sich bereits im Kreisverkehr fahrend der Unfallstelle genähert hat, früher in den Kreisverkehr eingefahren sein wird. Anders kann dies der Fall sein, wenn zwei Einmündungen des Kreisverkehrs so dicht nebeneinander liegen, dass eben nicht mehr die allgemeine Lebenserfahrung dafür spricht, dass ein Fahrzeug früher als das andere in den Kreisverkehr hineingefahren sein muss. Dies ist etwa dann der Fall, wenn es sich zum einen um einen engen Kreisverkehr handelt und zum anderen die jeweiligen Straßen nicht im rechten Winkel zum Kreisverkehr münden, sondern z.B. jeweils sehr spitz zueinander. Dann kann die Strecke, die derjenige zurückgelegt hat, der sich im Kreisverkehr bereits befunden haben soll, so kurz gewesen sein, dass allein schon ein geringer Geschwindigkeitsunterschied dafür sorgen konnte, dass durchaus beide Verkehrsteilnehmer zugleich in den Kreisverkehr hineingefahren sein könnten.

[2] Entscheidung v. 16.9.2005 – 10 U 27877/05.
[3] Entscheidung v. 28.3.2014 – 13 S 196/13.

II. Auffahrunfall

Wer auffährt hat Schuld bzw. "wenn es hinten knallt, gibt es vorne Geld".

Fährt ein Fahrzeug auf ein davor fahrendes oder stehendes Fahrzeug auf, spricht der Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden.

Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein? Feststehen muss dafür, dass das Fahrzeug, auf welches aufgefahren wurde, zuvor gestanden oder sich in Vorwärtsrichtung bewegt haben muss. Ist streit...

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