Wie sind Konstellationen zu bewerten, in denen es zu einem Verkehrsunfall im Kreuzungsbereich kommt, jedoch mit der Besonderheit, dass der Vorfahrtsberechtigte rückwärts gefahren ist? Gegen den Wartepflichtigen kann in einer solchen Konstellation der Anscheinsbeweis für eine Vorfahrtsverletzung sprechen, gegenüber dem Vorfahrtsberechtigten wiederum der Anscheinsbeweis gegen den Rückwärtsfahrenden. Dabei ist anzunehmen, dass grundsätzlich für das Vorfahrtsrecht nicht entscheidend ist, in welche Fahrtrichtung sich der Vorfahrtsberechtigte der Kreuzung oder Einmündung nähert. Er bleibt auch als Rückwärtsfahrender vorfahrtsberechtigt. Zugleich treffen ihn jedoch auch die besonderen Sorgfaltspflichten beim Rückwärtsfahren, da hiervon auch der sich seitlich nähernde Verkehr (Grundstück oder Einmündung) geschützt wird. Steht weiteres nicht fest, wird also zu Lasten beider Verkehrsteilnehmer der Anschein eines schuldhaften Verhaltens sprechen. Dabei geht die Rechtsprechung in einer solchen Konstellation nahezu durchgängig davon aus, dass denjenigen, der die Wartepflicht verletzt hat, der höhere Haftungsanteil treffen wird, wenngleich eine Alleinhaftung des Wartepflichtigen nicht in Betracht kommen wird. Das OLG Köln kam in einer solchen Konstellation zu einer Haftungsverteilung von 60 % zu 40 %, wobei es zu Lasten des Wartepflichtigen zu beachten hatte, dass sich dieser rückwärts aus einem Grundstück näherte.[19] Diese Haftungsbeurteilung kann ich nicht ganz teilen, da im dortigen Fall beide Verkehrsteilnehmer rückwärts gefahren sind und zudem ein Rückwärtsfahrender aus einem Grundstück herausgefahren ist. In einer solchen Konstellation sehe ich bei diesem einen höheren Haftungsanteil als 60 %. Das AG Erfurt nahm eine Haftungsbeurteilung von 70 % zu 30 % bei einem Rückwärtsfahrenden gegenüber einem aus dem Grundstück Herausfahrenden an.[20] Das AG Wismar kam bei einer Konstellation in einer nicht durch Verkehrszeichen geregelten Kreuzung dazu, dass der von rechts kommende Rückwärtsfahrende lediglich zu 20 % gegenüber dem von links Kommenden haften soll.[21]

[19] Urt. v. 15.12.1992 – 13 U 162/93.
[20] Urt. v. 1.4.1996 – 26 C 4459/95.
[21] Urt. v. 12.1.2005 – 12 C 507/04.

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