StVG § 17 Abs. 1 und 2; StVO § 1 § 9 Abs. 5; ZPO § 286

Leitsatz

1. Stand der Rückwärtsfahrende zum Zeitpunkt der Kollision noch nicht, spricht bei Parkplatzunfällen ein Anscheinsbeweis dafür, dass der Rückwärtsfahrende seiner Sorgfaltspflicht nach §§ 1, 9 Abs. 5 so nicht nachgekommen ist und deshalb den Unfall wenigstens mitverursacht hat.

2. Kann bei der Kollision zweier rückwärts aus Parkbuchten eines Parkplatzes ausfahrenden Kfz nicht ausgeschlossen werden, dass eines der Fahrzeuge bereits im Kollisionszeitpunkt stand, der andere, gegenüber ausfahrende Unfallteilnehmer mit seinem Fahrzeug in das – möglicherweise – stehende Fahrzeug hineingefahren ist, besteht gegen den Fahrer und Halter des möglicherweise stehenden Fahrzeugs kein für eine Mitverursachung des Unfalls sprechender Anscheinsbeweis.

3. Die Betriebsgefahr beider an der Kollision beteiligter rückwärts ausfahrender Kfz kann bei der Haftungsabwägung nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG unabhängig von dem etwaigen Eingreifen des Anscheinsbeweises Berücksichtigung finden.

(Leitsätze der Schriftleitung)

BGH, Urt. v. 11.10.2016 – VI ZR 66/16

Sachverhalt

Die Kl. verfolgt die Verurteilung der Bekl. aus einem Parkplatzunfall der Parteien mit ihren Kfz. Der Bekl. zu 1) fuhr auf dem Fahrweg zwischen zwei im rechten Winkel dazu angeordneten Parkbuchten. Er fuhr in eine aus seiner Fahrtrichtung rechts gelegene Parkbucht ein, um sofort in entgegengesetzter Richtung rückwärts aus der Parkbucht auszufahren. Die Kl. befand sich zu diesem Zeitpunkt mit ihrem Pkw in einer auf der gegenüberliegenden Seite des Fahrwegs gelegenen Parkbucht. Als sie gesehen hatte, dass der Bekl. zu 1) in die Parkbucht eingefahren war, fuhr sie mit ihrem Fahrzeug aus der Parkbucht rückwärts heraus und brachte ihr Fahrzeug auf dem Fahrweg zum Stehen. Noch ehe sie den Vorwärtsgang eingelegt und ihr Fahrzeug in Richtung der Ausfahrt in Bewegung gesetzt hatte, stießen die Fahrzeuge zusammen. Das Fahrzeug des Bekl. zu 1), der ebenfalls rückwärts aus seiner Parkbucht ausgefahren war, wurde am Heck beschädigt, das Fahrzeug der Kl. an der Fahrerseite.

Nach den Feststellungen des AG und des BG war das Fahrzeug der Kl. unmittelbar vor der Kollision zum Stehen gekommen. Die Bekl. zu 2) regulierte den Schaden der Kl. auf der Grundlage einer Haftungsquote von 50 %. Das AG hat die Klage auf Ersatz des weitergehenden Schadens abgewiesen. Die Berufung der Kl. hiergegen war erfolglos. Das LG hat die Revision zugelassen. Der BGH verwarf die Auffassung des LG, dass ein Anscheinsbeweis für ein Mitverschulden der Kl. für deren Verstoß gegen § 9 Abs. 5 StVO spreche. Der BGH verwies die Sache nach Aufhebung an das LG zur weiteren Verhandlung und Entscheidung zurück.

2 Aus den Gründen:

[6] "… Das angefochtene Urteil hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand. Entgegen der Auffassung des BG streitet nach den getroffenen Feststellungen kein Anscheinsbeweis für ein Mitverschulden der Kl. Die Revision beanstandet insoweit mit Recht die Ausführungen des BG zur Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG."

[7] 1. Grds. ist die Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG – wie im Rahmen des § 254 BGB – Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden sind (vgl. Senatsurt. v. 26.1.2016 – VI ZR 179/15, VersR 2016, 479 Rn 10; v. 27.5.2014 – VI ZR 279/13, VersR 2014, 894 Rn 18 und v. 7.2.2012 – VI ZR 133/11, VersR 2012, 504 Rn 5 m.w.N.). Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, d.h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben; in erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (Senatsurt. v. 26.1.2016 – VI ZR 179/15, a.a.O.; v. 27.5.2014 – VI ZR 279/13, a.a.O. und v. 7.2.2012 – VI ZR 133/11, a.a.O., m.w.N.). Einer Überprüfung nach diesen Grundsätzen hält die vom BG vorgenommene Abwägung nicht stand. Im Rahmen der hiernach gem. § 17 Abs. 1, 2 StVG gebotenen Abwägung der beiderseitigen Mitverursachungs- und -verschuldensanteile hat das BG rechtsfehlerhaft angenommen, dass der Anscheinsbeweis für ein Mitverschulden der Kl. spricht, obwohl es davon ausgegangen ist, dass das Fahrzeug der Kl. im Zeitpunkt der Kollision bereits stand.

[8] 2. Der erkennende Senat hat in zwei Entscheidungen (Senatsurt. v. 15.12.2015 – VI ZR 6/15, VersR 2016, 410 Rn 15 und v. 26.1.2016 – VI ZR 179/15, VersR 2016, 479 Rn 11) Grundsätze zur Anwendbarkeit des Anscheinsbeweises gegen den Rückwärtsfahrer bei Parkplatzunfällen aufgestellt.

[9] a) Danach ist die Vorschrift des § 9 Abs. 5 StVO auf Parkplätzen ohne eindeutigen Straßencharakter nicht unmittelbar anwendbar. Mittelbare Bedeutung erlangt sie aber über § 1 StV...

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