Wer bedenkt, welche Kopfschmerzen die Schadensabwicklung schon in der einen uns vertrauten Rechtsordnung bereiten kann, ahnt, welche Herkulesaufgabe Neidhart/Nissen mit der Darstellung von gleich 20 Rechtsordnungen auf sich genommen haben. Dass sie das Standardwerk "Unfall im Ausland" (5. Aufl., 2 Bde., ca. 700 Seiten) auf 192 Seiten im kompakten Westentaschenformat geschrumpft haben, darf man als mutigen Schritt bezeichnen. Kann er gelingen?

Trotz der Reduktion deckt das Büchlein die Reiseziele der Deutschen nahezu vollständig ab. Müßig zu streiten, ob man statt Finnland lieber Griechenland oder Kroatien nachgelesen hätte. Keine Auswahl kann alle Geschmäcker befriedigen, und Staaten-Vollständigkeit ist bei aufwendig recherchierten Länderberichten wahrlich nicht das Wichtigste.

In der Einleitung spannen die Autoren auf knappen 9 Seiten den Bogen von den KH-Richtlinien über die Grundzüge von Rom II und EuGVVO sowie den Schadensregulierungsbeauftragten bis zu Besonderheiten bei Unfällen in Nicht-EU-Staaten. Dabei vermitteln sie unter Berücksichtigung der EuGH-Rechtsprechung viele aktuelle Informationen auf wenig Raum. Hier oder da wäre ein Satz mehr vielleicht nicht von Nachteil gewesen. Wenn es etwa heißt, in zahlreichen EU-Mitgliedstaaten sei sowohl die Rom II-VO als auch das Haager Übereinkommen über Straßenverkehrsunfälle anwendbar (S. 12), weiß der Leser dann, dass diese Staaten das anwendbare Recht in Verkehrsunfallsachen nach dem Haager Übereinkommen bestimmen (Art. 28 Abs. 1 Rom II-VO)?

Die Länderberichte beginnen jeweils – sehr sinnvoll – mit einer stichwortartigen Übersicht der wichtigsten nationalen Besonderheiten. Ihre zielsichere Auswahl sowie die Prägnanz ihrer Zusammenfassung zeigen die große Erfahrung der Autoren bei der Durchdringung der Materie. Es folgen Hinweise zu Unfallzahlen, Haftpflichtversicherung, Garantiefonds und Verschuldens-/Gefährdungshaftung. Im Rahmen der knappen Darstellung können die mitunter komplexen nationalen Regeln zum Haftungsgrund freilich nur in groben Umrissen skizziert werden. So werden z.B. zum belgischen Recht die Unterschiede der Haftung von Fahrer, Halter und Versicherung nicht differenziert (S. 18); zum Schweizer Recht wird § 61 SVG nicht erwähnt (S. 138).

Es folgen Hinweise zur Höhe und Erstattungsfähigkeit von Rechtsanwaltskosten (nicht nur für den Anwalt sehr lesenswert), zur einvernehmlichen Schadensregulierung von der Unfallaufnahme über die Halter-/Versicherungsermittlung, die Regulierungspraxis der Versicherer bis zur Anrufung von Beschwerdestellen. Das Kapitel "Gerichtliche Schadensabwicklung" befasst sich mit Zuständigkeiten, Rechtsmitteln und Fristen, Prozesskosten und Verjährung. Auch einige praktisch bedeutsame Besonderheiten des Beweisrechts – etwa die Zeugenvernehmung durch attestations nach Art. 200 ff. CPC – werden erwähnt (S. 45).

In den Kapiteln zum Ersatz des Sach- und des Personenschadens findet sich zu praktisch allen gängigen Schadenspositionen eine prägnante Antwort. Es verblüfft, wie es den Autoren gelingt, die an Vielfalt wahrlich nicht arme Rechtspraxis vieler Staaten in wenige, leicht verständliche Kernaussagen zu fassen. Hier liegt die große Stärke des Buches.

In der Kürze der Darstellung können freilich nicht alle Facetten vollständig abgebildet werden. Zu entscheiden, wie viel Reduktion sein darf, ist dabei keine leichte Kunst. Ein Beispiel: Neidhart/Nissen schreiben, dass Mietwagenkosten in Frankreich "außergerichtlich bei Nachweis eines berufsbedingten Erfordernisses bezahlt" werden (S. 47). Nun gibt es zur Ersatzfähigkeit von Mietwagenkosten in Frankreich durchaus auch weniger strenge Stimmen in Rechtsprechung und Literatur (vgl. zu diesem Fragenkreis CA Colmar v. 20.3.1969 – 3e ch, Semaine juridique 1970 IV 1; CA Colmar v. 30.4.1970 – ch. corr., D. 1970, 779 f.; TI Caen v. 9.12.1987, Gazette du Palais 1988, 1, sommaires, S. 202, m. Anm. Cheron; Viney/Jourdain, Les effets de la responsabilité, in: Ghestin (Hrsg.), Traité de droit civil, 2. Aufl. 1989, Rn 103; Barbiéri/Hocquet-Berg, Régime de la réparation, JurisClasseur Civil, Art. 1382à 1386, Fasc. 203, Rn 44; Chartier, La réparation du préjudice dans la responsabilité civile, 1983, Rn 158). Allerdings sind die hierzu ergangenen, großteils älteren Entscheidungen bisweilen nur schwer aufzufinden, in der Sache nicht immer einheitlich und – gemessen am deutschen Urteilsstil – vielleicht weniger dogmatisch hergeleitet. Es besteht kein Zweifel, dass die Autoren mit solchen Details vertraut sind (vgl. Voraufl., Bd. 2, 2007, S. 85). In bestimmten Fällen kann es auf sie ankommen. Ob allerdings der Standardfall in der Praxis dazugehört, darf angesichts der sehr großen Bedeutung der außergerichtlichen Regulierung in Frankreich bezweifelt werden. Und um den Praxisfall, nicht um das wissenschaftliche Durchdeklinieren aller Nuancen und Kontroversen geht es dem Buch, das bewusst (S. 7) auf wissenschaftliche Nachweise verzichtet. Vor diesem Hintergrund ist die Aussage von Neidhart/Nissen durchaus gut...

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