" … Das VG geht von einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit der angegriffenen Entziehung der Fahrerlaubnis durch Bescheid v. 26.10.2016 und damit von einem fehlenden öffentlichen Vollzugsinteresse aus. Die Voraussetzungen der Fahrerlaubnisentziehung nach § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 3 StVG lägen nicht vor, da der Antragsteller nach dem Fahreignungsbewertungssystem derzeit nicht acht, sondern nur sechs Punkte erreicht habe. Anknüpfungspunkt für eine Entziehung der Fahrerlaubnis könnten nur solche Straftaten bzw. Ordnungswidrigkeiten sein, deren Begehung rechtskräftig feststehe. Sei die Rechtskraft eines im Fahreignungsregister eingetragenen Bußgeldbescheides jedoch beseitigt, müsse der Betr. diesen nicht mehr gegen sich gelten lassen. Dies sei dann der Fall, wenn – wie hier durch Beschl. des AG B-Stadt v. 3.11.2016 – auf einen entsprechenden Antrag hin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wurde und das Einspruchsverfahren deshalb noch nicht rechtskräftig abgeschlossen sei. Anders als bei späteren Tilgungen führe ein späteres Entfallen der Rechtskraft geahndeter Verstöße zu einer rückwirkenden Korrektur des Punktestandes. Dieser Umstand sei im Rahmen des anhängigen Widerspruchsverfahrens zu berücksichtigen. Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis – und damit auch der Frage der vorliegenden Rechtskraft bzw. deren Durchbrechung – sei in diesem Fall nicht der Zeitpunkt der Entziehungsverfügung."

Der Antragsgegner stellt den vom Antragsteller vorgetragenen und vom VG zugrunde gelegten Sachverhalt – rechtzeitiger Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid vom 26.5.2015, erstes Verwerfungsurteil wegen Abwesenheit des Antragstellers durch das AG B-Stadt v. 26.4.2016, nach Wiedereinsetzung zweites Verwerfungsurteil wegen Abwesenheit des Antragstellers v. 13.9.2016, nochmaliger Wiedereinsetzungsantrag v. 20.9.2016 und Gewährung der Wiedereinsetzung mit Beschl. v. 3.11.2016 – nicht in Frage. Er wendet sich vielmehr gegen die Rechtsauffassung des VG, wonach bereits die positive Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag zu einer rückwirkenden Punktereduzierung führe und diese wiederum vom Gericht schon vor Abschluss des Widerspruchsverfahrens zu berücksichtigen sei. Der Antragsgegner habe erst im Rahmen des Antrages auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes von der Wiedereinsetzung erfahren. Auch sei es den Verkehrsbehörden praktisch nicht möglich, den Stand einzelner Verfahren jeweils nachzuverfolgen. Sie müssten sich vielmehr auf die fortwährende Eintragung eines rechtskräftig geahndeten Verkehrsverstoßes im Fahreignungsregister verlassen können. Maßgeblich könne deshalb nur sein, ob eine Korrektur der Bußgeldentscheidung tatsächlich erfolge; bis dahin bestehe kein Spielraum, von der Fahrerlaubnisentziehung abzusehen. In der Schwebezeit – zwischen Wiedereinsetzung und Entscheidung des AG – könne es deshalb bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Fahrerlaubnisentziehung nur auf den Erlasszeitpunkt des Bescheides ankommen.

Diese mit Rechtsprechungszitaten unterlegten Ausführungen führen zu keinem anderen Ergebnis. Tatsächlich kann auf der Grundlage des vorgetragenen Sachverhaltes gegenwärtig nur von einem Stand von sechs Punkten und damit von einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entziehung der Fahrerlaubnis ausgegangen werden.

Die gerichtliche Überprüfung von Fahrerlaubnisentziehungen richtet sich in Klageverfahren nach der zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung geltenden Sach- und Rechtslage (vgl. auch Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 31. EL Juni 2016, § 80 Rn 414 m.w.N.); bei Durchführung eines Vorverfahrens nach §§ 68 ff. VwGO ist dies der Erlass des Widerspruchsbescheides. Zwischenzeitlich eingetretene Änderungen der Sach- und Rechtslage hat die Widerspruchsbehörde zu berücksichtigen (Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl., § 68 Rn 15). Steht der Widerspruchsbescheid noch aus und muss die Rechtmäßigkeit eines belastenden Verwaltungsaktes vorab in einem Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO beurteilt werden, ist grds. auf die zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung geltende Sach- und Rechtslage abzustellen (st. Rspr. des Senats, vgl. nur Beschl. v. 9.2.1993 – 4 M 146/92, NVwZ-RR 1993, 437, 439, in juris Rn 12). Dies folgt bereits aus dem o.g. Umstand, dass auch die Widerspruchsbehörde auf etwaige Änderungen der Sach- oder Rechtslage zu reagieren hätte; nichts anderes kann für die gerichtliche Entscheidung gelten (Schoch/Schneider/Bier, a.a.O. Rn 421).

Diese Grundsätze gelten prinzipiell auch im Bereich verkehrsbehördlicher Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 S. 1 StVG (vgl. Sächs. OVG, Beschl. v. 7.7.2015 – 3 B 118715, juris Rn 6). Etwas anderes gilt nur für den Fall, dass eine Maßnahme wegen Erreichens eines bestimmten Punktestandes ergriffen wird und sich der Punktestand nach deren Ergreifen aufgrund einer Tilgung verringert; dieser Umstand nach Ergreifen einer verkehrsbehördlichen Maßnahme hat unberücksichtigt zu bleiben. Nur diese Fallgesta...

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