StVG § 7 § 17 Abs. 2 § 18; StVO § 1 Abs. 2 § 4 Abs. 1 S. 1

Leitsatz

1. Die abrupte Bremsung des vorausfahrenden Fahrzeugs ohne äußeren Anlass ändert bei einem Auffahrunfall grds. nichts an einem im Wege des Anscheinsbeweises festzustellenden schuldhaften Verkehrsverstoß des Hintermanns.

2. Bei einem Auffahrunfall trifft den auffahrenden Fahrzeugführer i.d.R. eine Haftungsquote von 100 %. Die nicht ausgeräumte Möglichkeit, dass der Vordermann eventuell vorsätzlich aus "erzieherischen Gründen" abrupt gebremst hat, ändert daran nichts. Denn ein Verkehrsverstoß des vorausfahrenden Fahrzeugführers wäre nur dann zu berücksichtigen, wenn er nachgewiesen wäre.

OLG Karlsruhe, Urt. v. 28.4.2017 – 9 U 189/15

Sachverhalt

Die klagende Taxi-Unternehmerin macht die Verurteilung des beklagten Fahrers und dessen Haftpflichtversicherung wegen eines Verkehrsunfalls auf Ersatz der Schäden am Fahrzeug der Kl. geltend. Ein Fahrer der Kl. befuhr mit deren Taxi eine Straße, in deren Mitte sich eine Verkehrsinsel befand. Ihm folgte der Bekl. zu 1 mit seinem Fahrzeug. In der Nähe der Verkehrsinsel führte der Fahrer des Fahrzeugs der Kl. eine starke Bremsung durch, woraufhin der Bekl. zu 1 auf das Taxi der Kl. auffuhr. Streitig geblieben ist es, ob es für die Bremsung einen verkehrsbedingten Anlass gab.

Die Schadensersatzklage hatte beim LG keinen Erfolg. Die Berufung der Kl. führte zur Abänderung der angefochtenen Entscheidung und zu einer vollen Haftung der Bekl..

2 Aus den Gründen:

" … II. 1. Die Haftung der Bekl. beruht auf §§ 18 Abs. 1 StVG, 115 Abs. 1 VVG, 421 BGB. Der Bekl. zu 1 haftet als Fahrer des Fahrzeugs, welches den Unfall verursacht hat. Die Bekl. zu 2 haftet als zuständige Haftpflichtversicherung. Die Voraussetzungen für eine Entlastung gem. § 18 Abs. 1 S. 2 StVG liegen nicht vor. Denn die Bekl. haben ein fehlendes Verschulden des Bekl. zu 1 nicht nachgewiesen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass der Bekl. zu 1 den Unfall bei gehöriger Aufmerksamkeit und/oder ausreichendem Sicherheitsabstand hätte vermeiden können (siehe unten). Der Gesamtschaden der Kl. ist i.H.v. 11.279,16 EUR unstreitig."

Die Kl. hat auf den Schaden am 11.3.2016 von ihrem Kaskoversicherer eine Leistung i.H.v. 6.117,61 EUR erhalten. In dieser Höhe ist der Schadensersatzanspruch mit der Zahlung gem. § 86 Abs. 1 VVG auf den Kaskoversicherer übergegangen. Gem. § 265 ZPO hat dieser teilweise Anspruchsübergang während des laufenden Prozesses auf das Verfahren keinen Einfluss, jedoch mit der Maßgabe, dass die Bekl. wegen des Anspruchsübergangs in Höhe des entsprechenden Teilbetrags Zahlung nicht mehr an die Kl., sondern an den Kaskoversicherer zu leisten haben. Der teilweise Anspruchsübergang betrifft den überwiegenden Teil der Reparaturkosten (6.617,61 EUR abzüglich Selbstbeteiligung in der Kaskoversicherung i.H.v. 500 EUR).

2. Eine Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge gem. §§ 17 Abs. 2, 18 Abs. 3 StVG führt zu einer Haftungsquote von 100 %. Bei dieser Abwägung sind Verursachungsbeiträge nur insoweit zu berücksichtigen, als sie zu Lasten des jeweiligen Unfallbeteiligten nachgewiesen sind.

a) Der Bekl. zu 1 hat den Unfall verursacht durch einen schuldhaften Verkehrsverstoß. Er hat entweder infolge Unaufmerksamkeit auf das Bremsmanöver des vorausfahrenden Zeugen D zu spät reagiert (Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO), oder er hat keinen ausreichenden Sicherheitsabstand eingehalten (§ 4 Abs. 1 S. 1 StVO). Diese Feststellung beruht – wie bei anderen Auffahrunfällen – auf den Regeln des sog. Anscheinsbeweises (vgl. Senat NJW 2013, 1968).

Für die Feststellung eines schuldhaften Verkehrsverstoßes des Bekl. zu 1) kommt es entgegen der Auffassung des LG nicht darauf an, ob der Zeuge D sein Fahrzeug grundlos abgebremst hat. Im Straßenverkehr muss jeder Fahrzeugführer grds. damit rechnen, dass das vorausfahrende Fahrzeug plötzlich abgebremst wird, auch wenn der nachfolgende Fahrzeugführer vorher nicht sieht – und auch nicht vorhersehen kann –, dass und warum es zu einem Bremsmanöver des Vordermanns kommt (vgl. BGH NJW-RR 2007, 680 = NZV 2007, 354; OLG Karlsruhe NJW-RR 1988, 28, 29; Senat NJW 2013, 1968; Wenker, jurisPR-VerkR 12/2013 Anm. 1; Greger/Zwickel, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 5. Aufl. 2014, § 38 Rn 87). Der Anscheinsbeweis für das Verschulden des auffahrenden Kraftfahrzeugführers wäre nur dann erschüttert, wenn im konkreten Fall der Bremsweg für den Hintermann möglicherweise verkürzt wurde; dies kommt insb. in Betracht bei einem Spurwechsel des Vordermanns oder bei einem Auffahren des Vordermanns auf ein stehendes Hindernis, nicht jedoch bei einem plötzlichen Bremsmanöver des Vordermanns (vgl. BGH NJW-RR 2007, 680 = NZV 2007, 354). Soweit einzelne Gerichte eine Erschütterung des Anscheinsbeweises schon dann annehmen wollen, wenn der Vordermann grundlos stark abbremst (OLG Köln DAR 1995, 485; OLG Frankfurt a.M. NJW 2007, 87 = NZV 2006, 372), ist dem nicht zu folgen. Die genannten Entscheidungen des OLG Köln und des OLG Frankfurt berücksichtigen nicht, dass nach einem Auffahrunfall zwischen zw...

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