"Im Hinblick auf den Inhalt der beigezogenen Ermittlungsakte spricht alles für die Annahme, dass die Bekl. aufgrund eines grob fahrlässigen Fehlverhaltens als Fußgängerin bei dem Versuch der Straßenüberquerung das alleinige Verschulden an der Entstehung des Schadensereignisses trifft. Es ist nicht ersichtlich, dass sich die Kl. anspruchsmindernd ein Annäherungsverschulden des Fahrers ihres Pkw, des Zeugen, entgegen halten lassen muss. Im Ergebnis wird die Entscheidung der Tatsachenfrage offen bleiben können, ob sich die Kollision mit der Bekl. für den Zeugen als ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 S. 1 StVG darstellte. Denn angesichts des grob fahrlässigen Überquerungsverschuldens der Bekl. fällt die von dem klägerischen Pkw ausgegangene einfache Betriebsgefahr nicht mehr in einer eine anteilige Mithaftung der Kl. begründenden Weise ins Gewicht."

I. 1) Die entscheidende Ausgangsursache für die Entstehung des Kollisionsereignisses liegt nach dem bisherigen Erkenntnisstand in einer leichtfertigen Missachtung der Sorgfaltspflichten, welche die Bekl. als Fußgängerin bei dem Versuch der Überquerung der mehrspurigen N-Straße in D zu beachten hatte. Ein Fußgänger darf die Fahrbahn an dafür nicht besonders vorgesehenen Stellen nur mit erhöhter Vorsicht überqueren. Er hat auf den Verkehr Rücksicht zu nehmen und diesem im Allgemeinen den Vorrang einzuräumen. Er darf eine Fahrbahn nur überqueren, wenn er mit Sicherheit annehmen kann, er werde die andere Straßenseite vor Eintreffen des Fahrzeugs erreichen. Er hat folglich darauf zu achten, dass er nicht in die Fahrbahn eines anderen Fahrzeugs gerät und dieses behindert (Senat, Urt. v. 6.9.2011 – 1-1 U 196/10 mit Hinweis auf BGH NJW 1984, 50; sowie BGH NJW 2000, 3069 und weiteren Rechtsprechungsnachweisen). Der Fußgänger hat sowohl beim Betreten als auch beim Überschreiten der Fahrbahn auf sich nähernde Fahrzeuge zu achten, um den fließenden Verkehr nicht zu behindern. Verletzt er diese Sorgfaltspflichten, handelt er regelmäßig grob fahrlässig (KG MDR 2010, 1049).

2) Im Ergebnis kann dahin stehen, ob entsprechend der Begründung der angefochtenen Entscheidung das Alleinverschulden der Bekl. an der Entstehung des Schadensereignisses schon nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises anzunehmen ist. Nach der Rspr. des Senats ist ein solcher Beweis zu Lasten eines Fußgängers einschlägig, wenn ein Kfz auf der rechten Fahrbahnseite mit einem von rechts kommenden Fußgänger zusammenstößt (DAR 1977, 268). Ausweislich der polizeilichen Verkehrsunfallskizze hatte die Bekl. jedoch bereits die rechte Spur der N-Straße vollständig überquert, ehe sie am rechten Rand der durch den Zeugen befahrenen linken Geradeausspur gegen die vordere rechte Ecke des klägerischen Pkw geriet.

3) Allerdings bedarf es für die Feststellung eines grob fahrlässigen Überquerungsverschuldens der Bekl. keines Rückgriffs auf die Grundsätze des Anscheinsbeweises. Bereits eine einfache Weg-Zeit-Analyse bestätigt die Richtigkeit des Klagevorbringens, dass die Bekl. so unvermittelt auf die Fahrbahn lief, dass der Zeuge trotz einer sofort eingeleiteten Gefahrenbremsung keine Möglichkeit zur Abwendung des Zusammenstoßes mehr hatte.

a) Nach den schriftlichen Angaben des Zeugen sowie der unbeteiligten Zeugin drang die Bekl. in einer Laufbewegung auf der Straße vor. Ausweislich der polizeilichen Verkehrsunfallskizze hatte die Bekl. in ihrer diagonalen Fortbewegung nach dem Verlassen des rechtsseitigen Gehweges bis zum Erreichen der Unfallstelle eine Wegstrecke von etwa 3,30 m zurückgelegt

b) Die Kl. macht geltend, der Zeuge habe sich nur mit reduzierter Fahrtgeschwindigkeit der späteren Unfallstelle genähert, weil ein unbekannter Passant noch vor der Bekl. und ebenso unachtsam wie diese die N-Straße überquert habe. In Übereinstimmung damit steht das auf der polizeilichen Verkehrsunfallanzeige beruhende Vorbringen der Bekl., der Zeuge habe zunächst noch einen unbekannten Fußgänger trotz des fließenden Verkehrs die Straße überqueren lassen. Bei dieser Sachlage ist von einem Annäherungstempo des Zeugen auszugehen, welches deutlich unter 50 km/h lag.

c) Nach den Reihenuntersuchungen von Eberhardt und Himbert über die Bewegungsgeschwindigkeiten nichtmotorisierter Verkehrsteilnehmer ist für die Fortbewegungsmodalität “Laufen’ einer Fußgängerin im Alter der Bekl. eine Geschwindigkeit von mindestens 2 m/sec. in Ansatz zu bringen. Folglich hatte die Bekl. nach dem Verfassen des rechtsseitigen Gehweges die Strecke von 3,30 m bis zum Erreichen des Kollisionsortes in 1,65 Sekunden zurückgelegt.

d) Ein Kraftfahrzeugführer benötigt bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von beispielsweise 30 km/h jedoch einen deutlich längeren Zeitraum, nämlich einen solchen von 2,0 Sekunden, um sein Fahrzeug bei einer mittleren Verzögerung von 7 m/sec.2 auf einer Strecke von 12,43 m zum Stillstand zu bringen. Die Weg-Zeit-Analyse verschiebt sich zu Lasten der Bekl., wenn man für den Zeugen höhere Annäherungsgeschwindigkeiten von 35 km/h oder 40 km/h in...

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