1) Die Bewältigung des Diesel-Abgasskandals durch die Gerichte hat zu einem "Albtraum der Richter" (Budras in FAZ vom 4.8.2019, S. 17) geführt. Schon die Größenordnung der verschiedenen Prozesstypen hat zur Folge gehabt, dass die Bewältigung des Skandals den Rechtsstaat an seine Grenzen geführt hat. Neben 64.000 Individualklagen sind 50.000 Sammelklagen anhängig, die schon für sich gesehen große Bewältigungsprobleme aufwerfen. Hinzu kommen weitere Klageinteressenten, die vorwiegend aus Kostengründen Ansprüche gegen Hersteller bisher nicht geltend gemacht haben. Ihre Anzahl liegt in einer Größenordnung, die das Ausmaß der sonstigen Klageinteressenten weit übersteigt. Die zuletzt publizierte Zahl von 455.000 Anmeldungen zum Musterfeststellungsverfahren vor einem Spezialsenat des OLG Braunschweig (4 MK 1/18) macht deutlich, welche Hoffnungen Rechtssuchende mit der gebotenen Möglichkeit der Musterfeststellungsklage verbinden (vgl. zur Zahl der Anmeldungen FAZ vom 2.10.2019).

Mit der Einführung der Musterfeststellungsklage ist den Klageinteressenten eine Möglichkeit geboten worden, sich den Klagen des Bundesverbandes der Verbraucherzentrale (VZBV) und des ADAC anzuschließen und sich ohne Kostenrisiko die etwaigen günstigen Prozessergebnisse zu Nutze zu machen.

2) Die in diesem Zusammenhang entscheidende Frage, wie weit die Musterfeststellungsklage für den einzelnen seine Ansprüche anmeldenden Verbraucher Vorteile und Nachteile mit sich bringt, ist in erster Linie dahingehend zu beantworten, dass ein Kostenrisiko des Anmeldenden nicht besteht und die Verjährung seiner etwaigen Ansprüche gehemmt ist. Da er nicht Partei ist, trifft ihn bei Abweisung der Klage keine Kostenlast. Die Verjährungshemmung folgt aus § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB. Die Zuweisung der Musterfeststellungsklage, die der Bundestag ursprünglich an die LGs vornehmen wollte, die sodann auf Veranlassung des Rechtsausschusses des Bundestages an die OLGs erfolgt ist, führt für den Anmelder zu einer möglicherweise nachteiligen Sperre von Individualklagen (§ 610 Abs. 3 ZPO). Sollte der Hersteller "auf Zeit" spielen, kann der Ausschluss einer Individualklage sich für den Anmelder als nachteilig erweisen. Vor allem dann, wenn sich die Auffassung durchsetzt, dass der Schadensersatz fordernde Anmelder sich schadensmindernd die gezogenen Nutzungen anrechnen lassen muss, kann dies bei langer Dauer des Musterfeststellungsverfahrens die Folge haben, dass der zu verrechnende Nutzungsvorteil den Schadensersatzanspruch ganz oder zum Teil aufzehrt. Der Ratschlag, bei dieser Konstellation solle der Anmeldende auf eine Weiternutzung des Kfz verzichten, ist unpraktikabel. Überwiegend wird der Anmeldende nicht über die Mittel verfügen, durch Erwerb eines anderen Fahrzeuges seinen Mobilitätsbedarf zu decken. Nachteilig ist es weiterhin, dass ein etwaiges zusprechendes Feststellungsurteil zwingend der Revision zum BGH unterliegt (§ 614 Abs. 1 ZPO). Ein Vergleich bedarf nicht nur der möglicherweise kontrollierenden Genehmigung durch das Gericht (§ 611 Abs. 3 ZPO), sondern auch zum Schutz des Anmeldenden vor einer Majorisierung durch die Parteien des Musterfeststellungsverfahrens seiner Genehmigung (§ 611 Abs. 4 ZPO).

Die Bindungswirkung des Musterfeststellungsbescheides kann bei detailreicher Feststellung von Tatsachen und Rechtsfragen die Folge haben, dass der später eingeleitete Individualrechtsstreit weitgehend vorgeformt ist (vgl. § 613 Abs. 1 ZPO). Weist allerdings das Rechtsverhältnis des Anmeldenden zum Hersteller in tatsächlicher und/oder rechtlicher Hinsicht Besonderheiten auf, kann die Herbeiführung einer ausreichenden Bindungswirkung Schwierigkeiten bereiten.

3) Die in Rn 35 der Entscheidung des OLG Koblenz beschriebenen Abgasrückführungen stellen in dreifacher Hinsicht Täuschungshandlungen des Herstellers dar. Gegenüber der die Typengenehmigung für das Fahrzeug erteilenden Zulassungsbehörde wird vorgetäuscht, dass das Emissionsverhalten des Kfz den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 der VO (EG) r. 715/2007 (ABl 2008, i. 199) genügt (vgl. eingehend BGH zfs 2019, 321–323). Das Risiko des Käufers eines solchen Kfz besteht darin, dass er das Fahrzeug, falls es nicht nachgerüstet wird, im öffentlichen Verkehr nicht mehr bewegen darf (vgl. BGH a.a.O. Rn 22; OVG Münster NZV 2018, 484).

Eine weitere Täuschung durch den Hersteller – die Zurechnung unterstellt – liegt gegenüber dem zum Absatz des manipulierten Fahrzeuges eingeschalteten Händler vor. Da das Inverkehrbringen des angeblich bedenkenfrei geprüften Kfz den objektiven Erklärungswert hatte, der Pkw verfüge über eine nicht zu beanstandende Betriebserlaubnis, lag sowohl gegenüber dem Händler wie auch gegenüber dem schließlich gewonnenen Käufer eine Täuschungshandlung vor (vgl. auch OLG Karlsruhe, Hinweisbeschluss vom 5.3.2019 – 13 U 142/18, Rn 8 u. 11).

4) Schwerpunkt der zivilrechtlichen Reaktion auf die Fälle der Abgasmanipulation sind die Auseinandersetzungen zwischen Käufern und Herstellern, womit auch der davon betroffene G...

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