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Das reformierte Versicherungsvertragsgesetz 2008 (VVG) hat sich in der Praxis bewährt. Auch die von einigen Richtern und Versicherern befürchtete Prozessflut wegen der Quotenbildung bei grober Fahrlässigkeit ist nicht eingetreten. Im Gegenteil, viele Versicherungsnehmer, denen grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen wurde, haben sich mit einer Quote einverstanden erklärt, während das "Alles-oder-Nichts-Prinzip" nach altem Recht auf wenig Verständnis gestoßen ist.

I. Obliegenheiten

Die Verletzung vertraglicher oder gesetzlicher Obliegenheiten führt bei Vorsatz zur vollständigen und bei grob fahrlässiger Obliegenheitsverletzung zur partiellen Leistungsfreiheit des Versicherers, wenn sich diese Obliegenheitsverletzung kausal auf den Eintritt des Versicherungsfalls ausgewirkt hat. Bei schuldloser oder fahrlässiger Obliegenheitsverletzung bleibt die Eintrittspflicht des Versicherers bestehen, bei Arglist entfällt das Kausalitätserfordernis.

1. Vertragsanpassung

Wenn der Versicherer von der Möglichkeit der Vertragsanpassung nach Art. 1 Abs. 3 EGVVG keinen Gebrauch gemacht hat, kann er sich nicht auf Leistungsfreiheit wegen Obliegenheitsverletzung berufen. Eine geltungserhaltende Reduktion auf den zulässigen Inhalt ist unzulässig. Der Versicherer kann sich wohl auf grobe Fahrlässigkeit gem. § 81 Abs. 2 VVG oder Gefahrerhöhung (§§ 23 ff. VVG) berufen.[1] Diese – einseitige – Vertragsanpassung war nur im Kalenderjahr 2009 möglich, so dass eine spätere Änderung der AVB nur mit Zustimmung des Versicherungsnehmers möglich ist.

Demgegenüber ist eine Vertragsanpassung bei Versicherungsverträgen, die nach dem 31.12.2009 geschlossen worden sind, durchaus möglich. Wenn in einem solchen Vertrag ein vollständiger Leistungsausschluss auch bei grob fahrlässiger Obliegenheitsverletzung enthalten ist, ist diese Klausel gem. § 307 Abs. 1 BGB hinsichtlich der Rechtsfolgen unwirksam, da sie zum Nachteil des Versicherungsnehmers von § 28 Abs. 2 S. 2 VVG abweicht. Die hierdurch entstehende Vertragslücke kann dann gem. § 306 Abs. 2 BGB durch eine entsprechende Anwendung von § 28 Abs. 2 S. 2 VVG geschlossen werden.[2]

[1] BGH, IV ZR 199/10, VersR 2011, 1550 = r+s 2012, 9; BGH, IV ZR 124/13, r+s 2014, 282; BGH, IV ZR 156/13, zfs 2016, 38; OLG Dresden, 4 U 1292/14, r+s 2015, 233.
[2] OLG Naumburg, 10 U 5/13, VersR 2015, 102.

2. Mehrere Obliegenheitsverletzungen

Bei einer Obliegenheitsverletzung vor und nach Eintritt des Versicherungsfalls sind die Regresshöchstbeträge gem. § 5 KfzPflVV und gem. § 6 KfzPflVV zu addieren.[3]

3. Obliegenheiten nach Deckungsablehnung

Nach Leistungsablehnung durch den Versicherer endet die Sanktion der Leistungsfreiheit wegen schuldhafter Verletzung der Aufklärungsobliegenheit. Die Sanktion der Leistungsfreiheit beruht auf dem Schutzbedürfnis des verhandlungsbereiten Versicherers, der bei seiner Entscheidungsfindung in besonderem Maße auf wahrheitsgemäße Angaben des redlichen Versicherungsnehmers angewiesen ist. Dem Versicherer ist eine besondere Schutzwürdigkeit nicht mehr zuzubilligen, deren Missachtung die Verwirkung des gesamten Leistungsanspruchs nach sich ziehen würde. Dies gilt selbst bei einer vollendeten oder versuchten arglistigen Täuschung.[4]

[4] BGH, IV ZR 110/11, zfs 2013, 330 = MDR 2013, 594 = VersR 2013, 609.

4. Diskriminierungsverbot

Kündigung und Rücktritt eines Krankenversicherers sind unwirksam, wenn dieser sich darauf beruft, dass die Versicherungsnehmerin bei Antragsstellung Schwangerschaftskomplikationen nicht angegeben habe. Es liegt ein Verstoß gegen § 19 Abs. 1 AGG vor.[5]

[5] OLG Hamm, 20 U 102/10, NJW-RR 2011, 762.

II. Arglistige Täuschung

Es gibt keinen allgemeinen Erfahrungssatz, dass eine bewusst unrichtige Beantwortung einer vom Versicherer gestellten Frage immer und nur in der Absicht erfolgt, auf den Willen des Versicherers einzuwirken.

Eine arglistige Täuschung setzt eine Vorspiegelung falscher oder ein Verschweigen wahrer Tatsachen zum Zweck der Erregung oder Aufrechterhaltung eines Irrtums voraus. Der Versicherungsnehmer muss vorsätzlich handeln, indem er bewusst und willentlich auf die Entscheidung des Versicherers einwirkt.[6]
Eine arglistige Täuschung bei Vertragsanbahnung berechtigt den Versicherer, unabhängig von der Kausalität für den Versicherungsfall, zur rückwirkenden Lösung vom Vertrag; dies gilt auch dann, wenn der Versicherer die Kenntnis der arglistigen Falschangaben aufgrund einer unwirksamen Schweigepflichtentbindungserklärung erhalten hat.[7]
Das Durchstreichen eines Antwortfeldes im Versicherungsantrag ist als Verneinung der betreffenden Frage zu werten und berechtigt zur Anfechtung wegen arglistiger Täuschung, wenn in dieser Weise anderweitig bestehende Lebensversicherungen/Berufsunfähigkeitsversicherungen verschwiegen werden.[8]
Der Versicherungsnehmer handelt arglistig, wenn er in der Schadenanzeige die Frage nach Vorschäden verneint, ohne sich bei seinem Sohn zu erkundigen, der das Fahrzeug regelmäßig benutzt.[9]
Eine arglistige Täuschung durch Verschweigen von Vorerkrankungen liegt nicht vor, wenn der Versicherungsnehmer eine vom Makler falsch...

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