StVG § 7 Abs. 1 § 17 § 18 Abs. 1; StVO § 1 Abs. 2 § 8 Abs. 2; VVG § 115 Abs. 1 Nr. 1

Leitsatz

1. Das Vorfahrtsrecht entbindet den Verkehrsteilnehmer, der an einer zum Stillstand gekommenen Fahrzeugkolonne links vorbeifährt, nicht von der Pflicht, auf größere Lücken in der Kolonne zu achten. Er muss sich darauf einstellen, dass diese Lücken vom Querverkehr benutzt werden und darf sich einer solchen Lücke daher gem. § 1 Abs. 2 StVO nur mit voller Aufmerksamkeit und unter Einhaltung einer Geschwindigkeit nähern, die ihm notfalls ein sofortiges Anhalten ermöglicht.

2. Bei der nach § 17 StVG gebotenen Abwägung der Verursachungsanteile ist einer Vorfahrtsverletzung durch den Querverkehr gegenüber dem Verstoß gegen das Gebot des § 1 Abs. 2 StVO allerdings grds. größeres Gewicht beizumessen.

OLG Düsseldorf, Urt. v. 25.4.2017 – I-1 U 147/16

Sachverhalt

Der Bekl. zu 1 bog aus der untergeordneten Straße in eine Lücke der von dem Kl. mit seinem Kfz zum Überholen genutzten bevorrechtigten Straße ein, wobei beide Fahrzeuge kollidierten. Das LG legte eine Mithaftung des Kl. von 25 % zugrunde und verurteilte die Bekl. und die Bekl. zu 2 als Haftpflichtversicherer zum Ersatz von 75 % des Sachschadens.

Die Berufung des Kl. auf Verurteilung der Bekl. unter Ansetzung einer höheren Haftungsquote als 75 % hatte keinen Erfolg.

2 Aus den Gründen:

" … II. Das LG hat zu Recht einen Verstoß des Kl. gegen § 1 Abs. 2 StVO festgestellt, wodurch die Betriebsgefahr seines Pkws erhöht war. Er hätte nach der von den Bekl. zutreffend zitierten sog. “Lückenrechtsprechung' bei Annäherung an die Einmündung der Straße … in die … -Straße aufgrund des Rückstaus, der sich auf der rechten Spur der … -Straße gebildet hatte, besondere Sorgfalt walten lassen müssen. Da er dagegen verstoßen hat, kann er auch unter Berücksichtigung des Vorfahrtsverstoßes der Bekl. zu 1 Ersatz der materiellen Schäden nur mit einer Anspruchsberechtigung von 75 % geltend machen. Die Berufung, mit der er Ersatz der von ihm geltend gemachten materiellen Schäden mit einer höheren Haftungsquote als 75 % weiterverfolgt, unterliegt daher der Zurückweisung."

Im Einzelnen ist folgendes auszuführen:

1. Gem. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hat das BG seiner Verhandlung und Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Bloß subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte wollte der Gesetzgeber ausschließen (BGHZ 164, 330 = NJW 2006, 152 = NZV 2006, 73; Senat r+s 2015, 621).

2. Der Anspruch des Kl. gegen die Bekl. auf Schadensersatz aufgrund des streitgegenständlichen Verkehrsunfalls ergibt sich aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG. Die Voraussetzungen sind unstreitig erfüllt. Bei dem Betrieb des von der Bekl. zu 1 geführten Pkws, dessen Halterin sie war und der bei der Bekl. zu 2 haftpflichtversichert war, ist der Pkw des Kl. beschädigt worden. Der Unfall ist nicht durch höhere Gewalt gem. § 7 Abs. 2 StVG verursacht worden.

Da der Kl. seinerseits gem. §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG schadensersatzpflichtig ist und auch eine Unabwendbarkeit des Unfallereignisses i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG für keinen Beteiligten in Rede steht – der Kl. hat sogar ausdrücklich die vom LG festgestellte Nicht-Unabwendbarkeit nicht angegriffen –, bestimmt sich der Umfang der Haftung nach Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteilen, §§ 17, 18 StVG.

Bei dieser Abwägung dürfen nur unstreitige, zugestandene oder nach § 286 ZPO bewiesene Umstände berücksichtigt werden, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben (BGH NJW 2016, 1100 = NZV 2016, 168). Jede Partei trägt dabei die Darlegungs- und Beweislast für die Tatsachen, aus denen sich zu Lasten der anderen Partei eine Erhöhung der Betriebsgefahr ergibt (vgl. BGH NJW 1996, 1405 = NZV 1996, 231; Senat, Urt. v. 19.1.2010 – I-1 U 89/09, BeckRS 2010, 15810).

3. Im Rahmen dieser Abwägung kann zu Lasten des Kl. nicht nur die allgemeine Betriebsgefahr seines Pkws berücksichtigt werden. Diese Betriebsgefahr war aufgrund eines Verstoßes gegen § 1 Abs. 2 StVO erhöht.

a) Auch wenn nach den fehlerfrei getroffenen und nicht angegriffenen Feststellungen des LG ein Rotlichtverstoß des Kl. nicht bewiesen ist, so hatte der Kl. an der nur zweifarbigen Lichtzeichenanlage (§ 37 Abs. 2 Nr. 3 StVO), der Vorschaltampel, kein “Grünlicht', sondern war (nur) aufgrund des Zeichens 306 an der Einmündung der Straße … vorfahrtsberechtigt.

b) Dieses Vorfahrtsrecht entband den Kl. aber nicht von der aus § 1 Abs. 2 StVO folgenden Verpflichtung, eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer zu vermeiden (vgl. auch § 11 Abs. 3 StVO). Eine besondere Sorgfalt beim Vorbeifahren an dem Lkw auf der linken Spur der … -Straße war hier deshalb von dem Kl. zu fordern, weil der Verkehr auf der rechten Spur der … -Straße vor der Kreuzung … -Str...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge