StVG § 7 § 9 Abs. 1; StVO § 1 Abs. 2 § 2 Abs. 2 § 8 Abs. 1

Leitsatz

1. Den Vorfahrtsbereich bilden das Einmündungsviereck und die linke Hälfte der untergeordneten Straße, damit die gesamte Kreuzungsfläche in ganzer Fahrbahnbreite bei rechtwinkligen Kreuzungen begrenzt durch die Fluchtlinie beider Fahrbahnen. Bei trichterförmiger Einmündung der bevorrechtigten Straße ist dies der Bereich einschließlich der Fläche bis zu den Endpunkten des Trichters.

2. Der bevorrechtigte Verkehrsteilnehmer darf nach der Erkenntnis, dass sein Vorrecht von einem Wartepflichtigen nicht beachtet wird, sein Vorrecht nicht ohne Beachtung des Wartepflichtigen durchsetzen.

3. Den Wartepflichtigen trifft gegenüber bevorrechtigtem Verkehr grds. ein überwiegendes Verschulden, wobei ein Verschätzen zulasten des Wartepflichtigen geht.

(Leitsätze der Schriftleitung)

OLG Hamm, Urt. v. 17.1.2017 – I-9 U 22/16

Sachverhalt

Die damals 78 Jahre alte Kl. näherte sich mit ihrem Fahrrad einer in Form eines Rondells, eines runden Platzes, angelegten Kreuzung. Die Kl. beabsichtigte, das Rondell geradeaus fahrend an der gegenüberliegenden Einmündung zu verlassen. Aus der aus Sicht der Kl. rechts gelegenen Straße näherte sich die Bekl. mit ihrem Pkw. Beide Fahrzeugführerinnen fuhren in das Rondell ein und kollidierten mit ihren Fahrzeugen. Die Kl. zog sich einen schlecht verheilenden Bruch des Schienbeinkopfes zu, der in mehreren Operationen versorgt werden musste. Sie machte gegen die Bekl. und deren Haftpflichtversicherung den Ersatz von Haushaltsführungsschaden von 4.000 EUR und ein Schmerzensgeld von 10.000 EUR geltend.

Das LG hat unter Annahme einer Mithaftungsquote der Kl. von 20 % der Klage stattgegeben. Das OLG Hamm hat eine Mithaftungsquote der Kl. von 60 % angenommen und wegen fehlender ausreichender Aufklärung der Voraussetzungen des Haushaltsführungsschadens und des Schmerzensgeldes ein Grundurteil erlassen.

2 Aus den Gründen:

" … II. Die Berufung der Bekl. hat einen Teilerfolg, weil der Senat die maßgebliche Frage der Haftung der unfallbeteiligten Parteien anders beurteilt als das LG."

1. Die Haftung der Bekl. für das Unfallereignis ergibt sich aus § 7 Abs. 1 StVG, § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG, während sich die Mithaftung der Kl. nach § 9 StVG i.V.m. § 254 BGB richtet.

Dass sich die vom Beklagtenfahrzeug ausgehende Betriebsgefahr bei der Entstehung des Unfalls ausgewirkt hat, ist unzweifelhaft. Ferner hat zur Entstehung des Unfalls ein Mitverschulden der Kl. beigetragen, die einen Vorfahrtsverstoß i.S.d. § 8 Abs. 1 StVO begangen hat. Sie hatte nämlich an der fraglichen Kreuzung die Vorfahrtsregel “rechts vor links‘ zu beachten. Die Kl. hat selbst vorgetragen, sie habe das von der Bekl. zu 1) gesteuerte Fahrzeug beim Einfahren in die als Rondell ausgestaltete Kreuzung gesehen, jedoch angenommen, den Kreuzungsbereich noch vor diesem Fahrzeug verlassen zu können, weil das Beklagtenfahrzeug sehr langsam gefahren sei. Mithin ist unstreitig, dass das Beklagtenfahrzeug als bevorrechtigtes Fahrzeug zu erkennen war, als die Kl. in die Kreuzung einfuhr. Ihre Einschätzung, den Kreuzungsbereich noch vor dem Beklagtenfahrzeug räumen zu können, hat sich leider nicht bewahrheitet. Die Kl. hätte in der konkreten Situation den Vorrang des Beklagtenfahrzeuges beachten und das Überqueren der Kreuzung zurückstellen müssen.

Der Unfall ereignete sich noch in dem Bereich, in welchem das Fahrzeug der Bekl. zu 1) gegenüber der Kl. bevorrechtigt war.

Den Vorfahrtsbereich bilden das Einmündungsviereck und die linke Hälfte der untergeordneten Straße, d.h. die gesamte Kreuzungsfläche in ganzer Fahrbahnbreite, bei rechtwinkeligen Kreuzungen begrenzt durch die Fluchtlinien beider Fahrbahnen. Bei trichterförmiger Einmündung der bevorrechtigten Straße ist dies der Bereich einschließlich der Fläche bis zu den Endpunkten des Trichters (König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl., § 8 StVO Rn 28 m.w.N.). Hiervon ausgehend ereignete sich der Zusammenstoß, wie auch die Lichtbilder vom Unfallort belegen, in dem der Bekl. zu 1) die Vorfahrt einräumenden Bereich.

Selbst wenn man den Vorfahrtsbereich ohne Berücksichtigung des Einmündungstrichters bestimmen wollte, ereignete sich die Kollision möglicherweise ganz knapp außerhalb des durch die seitlich gezogenen Fluchtlinien definierten Bereichs. Das änderte nichts an der Feststellung eines Vorfahrts verstoßes seitens der Kl. Denn der Wartepflichtige muss gegenüber sichtbaren Berechtigten im Kreuzungsbereich bis zur vollständigen Einordnung das Vorfahrtsrecht beachten, auch wenn sich die Fahrbahnen erst jenseits der Kreuzung berühren. Die Wartepflicht entfällt erst dann, wenn der Wartepflichtige schon auf der Kreuzung ist und ausreichend Vorsprung gewonnen hat. Daraus folgt, dass der Wartepflichtige sicherstellen muss, dass er die Kreuzung vor dem Vorfahrtsberechtigten räumen kann. Dass es zum Zusammenstoß gekommen ist belegt, dass dies seitens der Kl. nicht sichergestellt werden konnte. Dabei entlastet die Kl. nicht, dass sich die Bekl. zu 1), wie sich aus den n...

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