Die bisherige Schmerzensgeldbemessungspraxis sieht so aus, dass man mehr oder weniger "passende" Vergleichsentscheidungen in sog. Schmerzensgeldsammlungen zu finden versucht und darin ausgeurteilte Schmerzensgeldbeträge auf den konkret zu entscheidenden Fall ummünzt. Diese Vorgehensweise stößt immer wieder an die Grenzen der Vergleichbarkeit von Lebenssachverhalten. Jedes Unfallgeschehen löst ein anderes Verletzungsbild beim Geschädigten aus. Selbst ähnlich gelagerte Unfallabläufe führen bisweilen zu sehr unterschiedlichen Verletzungen und Verletzungsfolgen.

In den aktuell gängigen Schmerzensgeldtabellen sind Schmerzensgeldentscheidungen enthalten, die teilweise über 40 Jahre alt sind. Exemplarisch wird auf die Entscheidung des OLG Stuttgart vom 20.5.1976 (Az. 10 U 200/75) verwiesen.[7] Es heißt dort:

Zitat

"Das Kind hatte irreparable Hirnschäden wegen fehlender Sauerstoffversorgung, es wurde zu einem Pflegefall. Ferner konnte das Kind aufgrund der Hirnschädigung ihre Umwelteindrücke nur in sehr eingeschränkten Maße wahrnehmen."

Das OLG Stuttgart urteilte 1976 ein Schmerzensgeld von 80.000 DM, was umgerechnet 40.000 EUR entspricht. Ferner ist in einer aktuellen SMG-Tabelle von 2018 ein Urteil vom LG Frankfurt a.M. vom 16.1.1975 enthalten.[8] Hier wurde bei einer Brustamputation bei einer Frau ein Schmerzensgeld von 30.000 DM – umgerechnet 15.000 EUR – zugebilligt (Az. 2/7 O 412/73). Schließlich wurde das damals in Deutschland mit Urteil vom 17.12.1974 höchste Schmerzensgeldurteil erwähnt. Es handelt sich um die Entscheidung des OLG Saarbrücken (Az. 7 U 83/73). Hier erhielt ein zehnjähriger Junge für den Verlust seines Geschlechtsorganes ein Schmerzensgeld i.H.v. 150.000 DM, was umgerechnet 75.000 EUR bedeutet.

So lange das aktuelle Schmerzensgeldsystem Urteile aus den 70iger Jahren des vorherigen Jahrhunderts berücksichtigt, dürfen sich die Beteiligten nicht wundern, wenn sich Widerstand in der Bevölkerung und bei den Geschädigten regt, da 1974 das höchste jemals ausgeurteilte Schmerzensgeld bei 75.000 EUR lag. Heute wird das zehn- und zwölffache ausgeurteilt, wie die Entscheidung des LG Aurich gezeigt hat. Ferner sind selbstverständlich 40 Jahre Rechtsprechung und 40 Jahre Zins- und Anlagepolitik zu berücksichtigen.

[7] VersR 1977, 846 (RiOLG Dr. Jäger).
[8] VersR 1975, 935.

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