[4] I. Das Berufungsgericht, dessen Urteil in VersR 2021, 127 veröffentlicht ist, hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt, der Tatrichter müsse sich mit den für die Schmerzensgeldbemessung maßgeblichen Umständen auseinandersetzen, wobei Schmerzensgeldentscheidungen anderer Gerichte weder Maßstab noch Begrenzung darstellten. Eine wirklich vergleichbare Entscheidung, die den Beeinträchtigungen des hiesigen Klägers ausreichend Rechnung trage, sei nicht bekannt. Die Schmerzensgeldbemessung unterliege zahlreichen subjektiven und regionalen Faktoren und sei für die Betroffenen kaum prognostizierbar. Unter Berücksichtigung dessen, dass weit über 90 % aller Schadensfälle außergerichtlich reguliert würden, sei es erforderlich, den Geschädigten ein System an die Hand zu geben, das eine transparente und gleichmäßige Berechnung von Schmerzensgeldern ermögliche. Der Berufungssenat bleibe deshalb auch in Ansehung der hieran geäußerten Kritik bei dem maßgebend im "Handbuch Schmerzensgeld" (Schwintowski u.a., 2013) entwickelten und in seinem Urt. v. 18.10.2018 (OLG Frankfurt, NJW 2019, 442) ausgeführten Prinzip einer sogenannten taggenauen Berechnung des Schmerzensgeldes, modifiziere diese allerdings hinsichtlich der einzelnen Beträge.

[5] Dabei gehe es nicht um eine Scheingenauigkeit, sondern um eine Plausibilitätskontrolle zur Berücksichtigung der die Betroffenen besonders belastenden Dauerschäden. Diese müssten besondere Berücksichtigung finden; es handele sich nicht nur um einen von vielen gleichberechtigten Faktoren.

[6] Zwar sei die der taggenauen Berechnung des Schmerzensgeldes zugrundeliegende Anknüpfung an das durchschnittliche Nettoeinkommen und die Wahl der verschiedenen Prozentsätze diskutabel und wirke willkürlich. Auch führe die buchstabengetreue Anwendung des Systems im Bereich jahrelanger Beeinträchtigungen zu Schmerzensgeldern, die zumindest derzeit jenseits der vertretbaren Erhöhung für schwere Fälle lägen. Deshalb gehe der Berufungssenat für solche Fälle in Weiterentwicklung seiner bisherigen Rechtsprechung zur Vereinfachung von einem Betrag von 150 EUR pro Tag für den Aufenthalt auf der Intensivstation, von 100 EUR pro Tag auf der Normalstation, von 60 EUR pro Tag in der Rehabilitationsklinik und von 40 EUR pro Tag bei 100 % GdS aus. Dies entspreche bei einem durchschnittlichen monatlichen Bruttoeinkommen im Jahr 2011 von 2.670,17 EUR etwa 5 %, 3 %, 2 % und 1 %.

[7] Festzuhalten sei an dem Anknüpfungspunkt, die Beeinträchtigungen nach der konkreten Behinderung zu bemessen, wobei der Grad der Schädigungsfolgen (GdS) entsprechend der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 ein brauchbarer Maßstab sei. Angesichts der dort enthaltenen differenzierenden Abstufungen sei auch nicht zwingend ein ärztliches Gutachten erforderlich.

[8] Im Fall des Klägers sei für den Verlust eines Beines im Unterschenkel bei genügender Funktionstüchtigkeit des Stumpfes ein GdS von 50 % anzunehmen. Die Großzehenheberlähmung mit Sensibilitätsstörung links sei mit einem GdS von 10 % zu bewerten. Für 512 Tage Krankenhausaufenthalt ergebe sich ein Betrag von 51.200 EUR. Lege man die Sterbetafel zugrunde, ergebe sich eine Lebenserwartung nach dem Unfall von ca. 9.490 Tagen, von denen nach Abzug der 512 Krankenhaustage 8.978 Tage mit jeweils 24 EUR für den angenommenen GdS von insgesamt 60 % anzusetzen seien, so dass sich 215.472 EUR errechneten. Insgesamt ergebe sich so ein Plausibilisierungsbetrag von 266.672 EUR. Dies erscheine auch bei einer Gesamtbetrachtung der Umstände, insbesondere der komplett veränderten Lebenssituation, der zahllosen Operationen mit den damit verbundenen Ungewissheiten und den zu erwartenden und teilweise schon aufgetretenen Folgeerscheinungen als durchaus angemessen.

[9] Auf der zweiten Stufe der Bewertung seien allerdings die zahlreichen schwerwiegenden Vorerkrankungen des Klägers zu berücksichtigen, die dazu führen könnten, dass der Kläger früher versterbe oder andere unfallunabhängige Behinderungen aufträten. Vor diesem Hintergrund sei eine Reduzierung des Schmerzensgeldbetrags auf insgesamt 200.000 EUR angemessen.

[10] II. Diese Erwägungen halten der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.

[11] 1. Die Bemessung des Schmerzensgeldes der Höhe nach ist grundsätzlich Sache des nach § 287 ZPO besonders frei gestellten Tatrichters. Sie ist vom Revisionsgericht nur darauf zu überprüfen, ob die Festsetzung Rechtsfehler enthält, insbesondere ob das Gericht sich mit allen für die Bemessung des Schmerzensgeldes maßgeblichen Umständen ausreichend auseinandergesetzt und sich um eine angemessene Beziehung der Entschädigung zu Art und Dauer der Verletzungen bemüht hat (Senatsurteile vom 10.2.2015 – VI ZR 8/14, VersR 2015, 590 Rn 7; vom 17.11.2009 – VI ZR 64/08, VersR 2010, 268 Rn 16; vom 12.5.1998 – VI ZR 182/97, BGHZ 138, 388, 391, juris Rn 11). Die Bemessung des Schmerzensgeldes kann in aller Regel nicht schon deshalb beanstandet werden, weil sie als zu dürftig oder als ...

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